Grabeskaelte
noch etwas für ihn Wichtiges einfallen sollte, verabschiedete sich Henning von Nora Gnaden.
Beim Hinausgehen dachte er wehmütig daran, dass Anouschka, als sie noch lebte, stets darauf achtete, dass unterm Weihnachtsbaum ein Buch für ihn lag. In Erinnerungen an die Jahre mit ihr versunken, machte er sich auf den Heimweg.
Schon von weiten sah er, dass im Haus nirgends Licht brannte. Ralph war also noch immer unterwegs. Um die Zeit zu nutzen, entschloss Henning sich, Coras Freunde und Bekannte anzurufen. Die dazugehörigen Telefonnummern die Ralph und Senta Glaser für ihn zusammengestellt hatten, schlug er in seinem Notizbuch nach. Schon nach den ersten Telefonaten erlosch ein Teil seiner Zuversicht und nach weiteren zwei Stunden musste er sich eingestehen, seinem Ziel keinen Schritt näher gekommen zu sein. Keiner der Angerufenen kannte Coras letztes Manuskript oder konnte ihm irgendeinen nützlichen Tipp geben. Hennings Ermittlungen befanden sich in einer Sackgasse. Was er jetzt brauchte war Abstand und einen Ort, an dem er ungestört nachdenken konnte. Da sich in seinem Gepäck zudem kein sauberes Stück Wäsche mehr befand, entschloss Henning sich, nach Hause zu fahren. Dass er wiederkommen würde, stand für ihn außer Frage. Er hatte seine bisherigen Fälle noch alle gelöst. Auch diesmal würde er einen Weg finden. Wenn er nur nicht die ganze Zeit über dieses unbestimmte Gefühl hätte, etwas übersehen zu haben. Er packte seine wenigen Habseligkeiten ein und hinterließ für Ralph eine Nachricht, in der er ihm versprach, baldmöglichst zurückzukommen. Dann löschte er das Licht, schloss die Haustür sorgfältig ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Wenig später saß er hinter dem Steuer seines Wagens. Am Hermsdorfer Kreuz tankte er und aß eine Kleinigkeit zu Abend. Kurz vor Mitternacht traf er in Leipzig ein.
Rüdiger erwartete ihn bereits. Er sah überarbeitet aus. Seine Augen, unter denen sich dicke Tränensäcke gebildet hatten, waren von einer Vielzahl roter Äderchen durchzogen. Er wirkte frustriert. Auch seine Ermittlungen bewegten sich auf der Stelle. Rüdiger holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, entkronte sie und reichte Henning eine davon. Dann hörte er sich an, was sein Freund zu berichten hatte. Es war weit nach Mitternacht, als sie sich zur Ruhe begaben.
Am nächsten Morgen erwartete sie ein sonniger Tag. Nach dem Frühstück packten sie ihre Angel sachen zusammen und fuhren zum Bootsanlegesteg, an dem Rüdigers Kahn festgemacht war. Nachdem sie das Boot mit ihrer Ausrüstung und etwas Proviant beladen hatten, ruderten sie zu ihrer Lieblingsstelle, einer ins Riedgras geschlagenen Schneise. Als sie ihre Angeln in Position gebracht hatten, zündete Rüdiger sich eine Zigarre an. Auch Henning holte seine Pfeife und einen Tabaksbeutel hervor. Seine schwieligen Finger stopften den geschnitzten Pfeifenkopf und drückten den Tabak fest. Dann hob er die Pfeife zum Mund, zündete ein Streichholz an und schützte die winzige Flamme mit vorgehaltenen Händen vor dem Wind. Er zog mehrmals heftig daran, atmete dann aus, und der gelbe Rauch hing mit seinem Vanillegeruch in der Luft und vermischte sich mit Rüdigers blauem Dunst. Genüsslich verschränkte Henning seine Hände im Nacken, lehnte sich mit dem Oberkörper an die Bootsplanken, hielt sein Gesicht der Sonne entgegen und schloss entspannt die Augen.
Wenig später war er eingeschlafen und erwachte erst wieder, als Rüdiger ihn sanft anstupste: „Essenszeit.“ Er drückte Henning ein kühles Bier und eine mit Salami belegte Semmel in die Hand.
„Ich dachte, du wolltest zum Angeln raus fahren um über deinen Fall nachzudenken. Stattdessen schläfst du ein.“ Missmutig setzte er noch hinzu: „Nicht mal die Fische wollen anbeißen. Scheint heute wohl nicht unser Tag zu sein.“
Henning spülte mit einem großen Schluck Bier die Reste seines Brötchens hinunter und meinte gutgelaunt: „Also ich weiß wirklich nicht, was du hast. Die Sonne scheint, wir haben genügend zu essen und zu trinken und bis heute Abend ist noch viel Zeit. Da ist noch alles drin für uns, findest du nicht auch?“
„Na ja, vielleicht hast du ja Recht. Mein Problem ist, dass es mir nicht so schnell wie dir gelingt, abzuschalten. Die letzte Woche steckt mir noch immer in den Knochen. Im Moment empfinde ich meine Arbeit deprimierender denn je.“
„Ich weiß, was du meinst. Aber auch das geht vorbei. Vertrau mir! Noch gestern ging es mir genauso.
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