Grabeskaelte
ganz danach aus, als sei ich wieder einmal zu spät gekommen. Weshalb nur haben Sie denn nicht mich zuallererst darüber informiert? Sie wussten doch schließlich, wie verzweifelt ich nach weiteren Spuren suchte.“
„Das war gewiss keine Absicht“, gestand Senta ihm schuldbewusst ein. „Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, nach einem Tagebuch zu suchen. Erst auf Ralphs Frage hin, habe ich mich wieder daran erinnert.“
Senta dachte angestrengt nach, wie ihr Fehler wieder gutzumachen wäre. „Ich könnte bei Ralph anrufen“, meinte sie nach einer Weile „um mich danach zu erkundigen, ob er etwas gefunden hat.“
„Wenn er es hat, dann wird ihn Ihre Frage kaum aus der Fassung bringen. Er wird es leugnen, und wir sind wieder genauso schlau wie vorher.“
Gedankenverloren massierte Henning seine Nasenwurzel. Man konnte ihm ansehen, dass ihn etwas beschäftigte.
„Wissen Sie eigentlich, dass ich Coras Schreibtisch erst kürzlich einer gründlichen Durchsuchung unterzogen habe? Dabei ist mir jedoch kein Geheimfach aufgefallen. Wo befand es sich denn?“
„Können Sie sich noch an die Schubkästen auf der rechten Seite erinnern?“ Henning bejahte. „Um an das verborgene Fach zu gelangen, musste man die unterste Lade herausnehmen. Für jemanden, der das Versteck nicht kannte, ließ sie sich aber nur bis zu einem gewissen Grad herausziehen. Ab da hatte man das Gefühl, der Kasten würde klemmen.“
„Das stimmt allerdings“, entfuhr es Henning. „Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein.“
„Wenn man wusste wie“, fuhr Senta fort, „genügte ein weiterer kräftiger Ruck und er ließ sich ganz herausheben. Darunter befand sich eine Sperrholzplatte, die Millimeter genau in den Boden eingearbeitet war. Nahm man diese heraus, stieß man auf einen Hohlraum, der groß genug war, um als Versteck für ein Tagebuch zu dienen.“
„Dort habe ich nichts Derartiges vermutet“, bekannte Henning.
„Wie hätten Sie das auch wissen sollen. Dieses Geheimfach war schließlich eine Erfindung meiner Mutter. Im Krieg diente es ihr als Versteck für ihren Schmuck. Es war sozusagen aus der Not heraus geboren.“
„Aber wirkungsvoll, wie es scheint.“
Senta nickte stumm. „Ich komme mir so dumm vor. Schon wieder habe ich alles falsch gemacht.“
„Na ja, eine Meisterleistung war das wirklich nicht. Aber mir ist da soeben noch etwas anderes eingefallen. Sagen Sie, Cora hatte doch sicher auch ein Zimmer hier im Haus. Existiert das noch?“
„Wollen Sie es sehen?“
„Gerne.“
Senta ging voraus. Über eine mit beigen Teppichmonden belegte Treppe folgte Henning ihr nach oben. Wenig später befand er sich in Coras Reich. Der Einrichtung nach war es ein typisches Jungmädchenzimmer. Seit Cora es vor Jahren aufgegeben hatte, war darin nie etwas verändert worden. Zarte weiße Baumwollgardinen bauschten sich sanft im Wind. Die gelben Wände mussten neu gestrichen werden – der Farbton war mit den Jahren stumpf geworden.
„Gelb war Coras Lieblingsfarbe“, hörte Henning Senta, die hinter ihn getreten war, sagen. „Sie wollte ein fröhliches Zimmer haben.“ Andächtig näherte sie sich dem Bett und fuhr mit ihrer Hand liebkosend über die weißgelb gemusterte Steppdecke. An der Wand darüber hingen mehrere Blumendrucke, ein Foto von Coras geliebter Cockerspanielhündin, die vor vielen Jahren gestorben war und ein Poster von Tony Musante, einem amerikanischen Schauspieler für den Cora jahrelang geschwärmt hatte. Unter dem Fenster stand eine Truhe aus Zedernholz. Auf ihrem Deckel saßen etliche Plüschtiere: Hunde und Katzen und Coras Liebling, ein großer gelber Teddybär, von dessen abgeschabtem Pelz nicht mehr viel vorhanden war. Auf einem Toilettentisch, links neben der Tür, stand eine ramponierte rosa Schmuckschatulle. Daneben befanden sich ein altmodischer Wecker und eine leere Parfümflasche. In der Ecke gegenüber stand Coras, von einer dünnen Staubschicht bedeckter Schreibtisch. Eine verstellbare Lampe und ein Globus sowie eine bekritzelte Schreibtischunterlage waren darauf untergebracht. Als Henning sich gründlich umgesehen hatte, fragte er: „Haben Sie schon daran gedacht, hier nach dem Tagebuch zu suchen?“
„Ich selbst nicht, aber Ralph. Als er nachsah war ich dabei. Er hat es nicht gefunden.“
„Sollten Sie eine Idee haben, wo Coras Tagebuch sonst noch sein könnte, dann rufen Sie mich bitte an.“
Nachdem Henning aus seiner Jackentasche einen Stift und ein Stück Papier
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