Grabesstille
Sie registrierte die Gerüche in der Dunkelheit, das nervöse Flackern der Lichtflecken. Das beruhigende Gewicht der Waffe in ihrer Hand. Die Frau in Schwarz dort oben auf dem Dach hatte auch eine Pistole, aber die hat sie nicht retten können.
Sie dachte an Klingen, die Handwurzelknochen durchtrennten, die Hälse und Luftröhren zerschnitten, und ihr graute vor dem, was sie hinter dieser Tür erwartete.
Eins, zwei, drei. Los, mach schon.
Sie trat als Erste über die Schwelle und ließ sich in die Hocke fallen, während sie die Lampe im Halbkreis schwenkte. Hinter sich hörte sie Frosts keuchenden Atem, während vor ihr eine Toilettenschüssel auftauchte, ein Waschbecken, eine rostfleckige Badewanne. Kein Monster mit einem Schwert.
Die nächste Tür.
Diesmal ging Frost voran, und sie schlichen durch ein Schlafzimmer, in dem die Tapeten in Fetzen von den Wänden hingen, als ob der Raum sich häutete. Keine Möbel, nichts, wo sich jemand verstecken könnte.
Noch eine Tür, und sie fanden sich wieder im Wohnzimmer, in vertrauter Umgebung. Jane ging hinaus ins Treppenhaus, wo Tam mit Mr. Kwan wartete.
»Nichts?«, fragte Tam.
»Dieses Foto hat sich nicht von selbst davongemacht.«
»Wir haben die ganze Zeit hier im Treppenhaus gestanden. Niemand ist an uns vorbeigekommen.«
Jane steckte ihre Waffe wieder ein. »Aber wie um alles in der Welt …«
»Rizzoli!«, rief Frost. »Schau dir das an!«
Sie fanden ihn im Schlafzimmer, wo das Porträt gehangen hatte. Er stand am Fenster, das wie alle anderen vernagelt war, doch als er das Brett leicht anstieß, schwang es locker zur Seite – es war nur mit einem einzigen Nagel oberhalb des Rahmens befestigt. Jane spähte durch die Öffnung und sah, dass das Fenster auf die Knapp Street ging.
»Hier ist die Feuertreppe«, sagte Frost. Er steckte den Kopf hinaus und verdrehte den Hals, um zum Dach hinaufzuschauen. »He, da oben bewegt sich was!«
»Los, hinterher!«, rief Jane.
Frost kletterte über den Sims, zwängte mühsam seine langen Arme und Beine durch die Öffnung und landete mit einem metallischen Scheppern auf dem Absatz der Feuertreppe. Tam stieg ihm mit den geschmeidigen Bewegungen eines Akrobaten nach. Jane bildete die Nachhut. Während sie auf das Metallgitter sprang, erhaschte sie einen Blick auf die Straße unter ihnen. Sie sah zersplitterte Holzkisten, zerbrochene Flaschen. Es wäre auf jeden Fall ein übler Sturz mit schlimmen Folgen. Sie zwang sich, nur auf die Leiter nach oben zu schauen, die Frost gerade so geräuschvoll erklomm, dass das ganze Viertel ihre Verfolgungsjagd mitbekam.
Sie kletterte hinter Tam hinauf, packte das glitschige Metall mit beiden Händen, während der Wind den Schweiß auf ihrem Gesicht kühlte. Sie hörte Frost ächzen, sah die Umrisse seiner Beine vor dem Nachthimmel zappeln, als er sich über die Kante aufs Dach hievte. Seine Bewegungen übertrugen sich durch das Metall, und Jane spürte, wie die ganze Feuertreppe vibrierte. Einen panischen Moment lang fürchtete sie, die Halterungen könnten nachgeben, die ganze klapprige Konstruktion könnte unter dem Gewicht von drei Menschen einknicken – schon hörte sie das verbogene Metall kreischen, sah sie alle drei auf den Asphalt hinunterstürzen. Sie erstarrte, die Leiter fest umklammert, voller Angst, dass schon der leiseste Windstoß die Katastrophe auslösen könnte.
Ein schriller Schrei über ihr ließ sie zusammenfahren. Frost .
Sie blickte nach oben, sah im Geiste schon seinen Körper im freien Fall auf sich zukommen, doch da war nur Tam, der gerade die letzten Stufen erklommen hatte und über die Dachkante verschwand. Sie stieg ihm nach. Ihr war schlecht vor Angst. Als sie die Dachrinne erreichte, brach ein Stück von einer Asphaltschindel ab, an der sie sich festhalten wollte, und fiel hinab in die Dunkelheit. Mit zitternden Händen zog sie sich über die Kante aufs Dach. Ein paar Schritte vor sich erspähte sie Tam.
Frost. Wo ist Frost?
Sie sprang auf und suchte das Dach ab. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Schatten davonhuschen, so schnell, dass Jane zuerst an eine Katze dachte, die mit geschmeidigen Bewegungen in die Dunkelheit glitt. Unter dem Nachthimmel sah sie Dächer, die nahtlos ineinander überzugehen schienen, eine luftige Landschaft aus Schrägen und Senken, hoch aufragenden Kaminen und Lüftungsschächten. Aber keine Spur von Frost.
Mein Gott, er ist abgestürzt. Er liegt irgendwo unten am Boden, tot oder sterbend.
»Frost?«, schrie Tam, der
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