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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Kochs.«
    Jane brauchte einen Moment, um es zu erkennen, doch als sie das Gesicht näher betrachtete, wurde ihr klar, dass Frost recht hatte. Der Mann auf dem Foto war in der Tat Wu Weimin, doch es war kein blutrünstiger Irrer, der sie anstarrte. Auf diesem Bild lachte er fröhlich, in der Hand eine Angelrute, eine Boston-Red-Sox-Kappe schief auf den Kopf gesetzt. Ein glücklicher Mann an einem glücklichen Tag.
    »Das sieht aus wie eine Art Altar zu seinem Gedenken«, sagte Frost.
    Jane nahm eine Orange von dem Teller und schnupperte daran. Sie sah, dass das Stielende grünlich gefärbt war. Die Frucht war echt. Sie drehte sich zu Mr. Kwan um, den sie nur schemenhaft in der Tür erkennen konnte. »Wer hat sonst noch einen Schlüssel für dieses Gebäude?«
    »Niemand«, antwortete er und rasselte mit seinem Kerkermeisterring. »Ich haben einzige Schlüssel.«
    »Aber diese Orangen sind frisch. Jemand war vor Kurzem hier. Jemand hat diese Opfergaben hingelegt und diese Räucherstäbchen angezündet.«
    »Diese Schlüssel immer bei mir«, beharrte er und unterstrich seine Worte erneut mit lautem Klirren.
    »Das Tor unten ist mit einem Stangenschloss versehen«, bemerkte Frost. »Unmöglich zu knacken.«
    »Aber wie konnte dann jemand …« Sie verstummte schlagartig. Drehte sich zur Tür um.
    Polternde Schritte kamen die Treppe herauf.
    Blitzschnell zog sie ihre Waffe und packte sie mit beiden Händen. Sie stieß Mr. Kwan zur Seite und schlüpfte rasch zur Schlafzimmertür hinaus. Während sie langsam durch das Wohnzimmer vorrückte, spürte sie, wie ihr Herz pochte, und sie hörte Frosts knarrende Schritte an ihrer Seite. Sie roch Räucherwerk, Schimmel und Schweiß; Dutzende von Details bestürmten gleichzeitig ihre Sinne. Doch es war die Tür zum Treppenhaus, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richtete, ein schwarzes Loch, hinter dem der unbekannte Eindringling sich jeden Moment zeigen würde. Da tauchte auch schon die Silhouette eines Mannes in der Tür auf.
    »Keine Bewegung!«, rief Frost. »Boston PD !«
    »Immer mit der Ruhe, Frost!« Johnny Tam lachte verblüfft auf. »Ich bin’s doch nur.«
    Hinter sich hörte Jane Mr. Kwan ängstlich quieken. »Wer ist er? Wer ist er?«
    »Mensch, Tam«, sagte Frost und schnaufte erleichtert durch, während er seine Waffe wieder einsteckte. »Ich hätte Ihnen um ein Haar den Schädel weggepustet.«
    »Sie haben doch gesagt, dass wir uns hier treffen sollen, oder nicht? Ich wäre ja eher gekommen, aber ich bin auf der Rückfahrt von Springfield im Stau stecken geblieben.«
    »Haben Sie mit dem Besitzer dieses Honda gesprochen?«
    »Ja. Er sagt, der Wagen wurde ihm aus seiner Einfahrt gestohlen.« Er schwenkte seine Taschenlampe durch den Raum. »Also, was haben wir denn hier?«
    »Mr. Kwan zeigt uns gerade das Haus.«
    »Es ist seit Jahren verriegelt und verrammelt. Was gibt es da zu sehen?«
    »Mehr, als wir erwartet haben. Das hier ist Wu Weimins Wohnung.«
    Tam leuchtete die Schimmelflecken an der Wand an, den bröckelnden Putz an der Decke. »Die Bude sieht aus, als ob sie noch aus der Bleifarben-Ära stammt.«
    »Nix Bleifarben in diese Haus«, sagte Kwan gereizt. »Und nix Asbest.«
    »Aber sehen Sie mal, was wir gefunden haben«, sagte Jane und wandte sich zum Schlafzimmer um. »Jemand ist in dieser Wohnung gewesen. Und er hat etwas dagelassen …« Sie erstarrte, den Strahl der Lampe auf die leere Wand gerichtet.
    »Was hat er dagelassen?«
    Ich muss die falsche Stelle angeleuchtet haben, dachte sie und ließ den Lichtfleck weiterwandern. Wieder sah sie nur die leere Wand. Sie drehte sich einmal ganz im Kreis, bis die Taschenlampe wieder den kleinen Tisch mit den Räucherstäbchen und den Orangen anstrahlte. Die Wand darüber war kahl.
    »Was zum Teufel …«, zischte Frost.
    Halb übertönt vom Pochen ihres eigenen Herzens, hörte Jane ein dreifaches Klicken, als sie alle ihre Pistolentaschen aufknöpften. Während sie ihre Waffe zog, flüsterte sie: »Tam, gehen Sie mit Mr. Kwan raus ins Treppenhaus, und bleiben Sie bei ihm. Frost, du kommst mit mir.«
    »Warum?«, protestierte Mr. Kwan, als Tam ihn aus dem Zimmer zerrte. »Was ist los?«
    »Die Tür da«, murmelte Jane und richtete ihre Lampe auf ein schwarzes Rechteck.
    Zusammen mit Frost ging sie ganz langsam darauf zu. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen sprangen wild hin und her, als sie jede dunkle Ecke ausleuchteten. Janes Atem war wie ein Dröhnen in ihren Ohren, alle ihre Sinne aufs Äußerste geschärft.

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