Grabesstille
eine, von der ich dachte, dass er sie stellen könnte.
»Sie sind weg, Bingle«, sagte ich, während ich wünschte, ich hätte ihn nie hierher gebracht.
Er setzte sich und musterte mich schweigend einen Moment lang. Dann legte er den Kopf in den Nacken und jaulte – es war nicht der hohe, schmachtende Ton, den er zum Spaß für David gesungen hatte, sondern ein tiefes, urtümliches, schwermütiges Klagelied, ein Klang, mit dem man Geister ruft.
Drei Abende später schmuggelte ich Bingle ins Krankenhaus. Ich kenne eine unfolgsame Nonne, die zum Personal von St. Anne’s gehört, und mit ihrer Hilfe und der Unterstützung zweier Wachmänner kamen wir kurz vor Ende der abendlichen Besuchszeit auf Bens Stockwerk an. Ich hatte den Hund angewiesen, still zu sein, aber er schien bereits selbst begriffen zu haben, dass er Teil einer Geheimoperation war. Schwester Theresa und den Wachen gegenüber ließ er seinen ganzen Charme spielen. Ruhig trottete er neben mir her. Obwohl ich ihm ansah, dass seine Nase auf Hochtouren arbeitete, bestand er nicht darauf, jedem der auf ihn einstürmenden interessanten Düfte nachzugehen.
Ben erwartete uns. Der Besuch war seine Idee gewesen, obwohl er vermutlich nicht geglaubt hatte, dass wir es tatsächlich bewerkstelligen könnten. Bingle wollte nicht mehr fressen. »Ich bereue inzwischen, dass ich ihn mit zu David genommen habe«, sagte ich zu Ben. »Aber ich glaube, er ist nicht zuletzt deshalb deprimiert, weil sämtliche Vertrauten aus seinem Leben verschwunden sind – David, Bool und, soweit er weiß, auch Sie.«
Bens Zweifel daran, ob Bingle ihn vermisste, wurden von der Reaktion des Hundes hinweggefegt. Bingles Ohren stellten sich auf, und sein Schwanz wedelte wild hin und her. Er ging rasch, aber vorsichtig auf das Bett zu, und nachdem er vor Begeisterung ein wenig geknurrt hatte, rieb er die Schnauze an Ben und küsste ihn ab.
Bingles Gegenwart war auch für Ben keine schlechte Medizin. Beide sahen so glücklich aus wie seit Tagen nicht.
Während dieser Wiederbegegnung öffnete sich auf einmal die Tür zu Bens Zimmer, und eine fast kriminell umwerfende Blondine kam herein. Sie war groß und dünn, hatte große seegrüne Augen mit langen Wimpern, hohe Wangenknochen, ein hübsches Näschen und jede Menge anderer Vorzüge, die mich darüber nachgrübeln ließen, wie viele Frauen eine Extraportion Hässlichkeit auf sich nehmen mussten, damit Gott dieses eine Exemplar so schön hatte gestalten können. Sie trug ein konservativ geschnittenes beiges Kostüm und hatte Blumen dabei – einen heiteren Strauß in einer eleganten Keramikvase. Wie persönlich, dachte ich, nicht das altbekannte Standardmodell aus grünem Glas vom Blumenladen.
»Ich komme offenbar ungelegen«, sagte sie.
»Wie hast du es geschafft, an den Wachen vorbeizukommen?«, fauchte Ben.
War der Mann verrückt? Ich wusste, wie sie an ihnen vorbeigekommen war.
»Wirklich ganz ungelegen«, wiederholte sie und machte Anstalten, wieder hinauszugehen.
»Nein, warte«, sagte Ben, doch ich bemerkte, wie er sich fest an Bingle klammerte. »Tut mir Leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Komm rein, Camille.«
Das war also seine Exfreundin.
Sie blickte zum Fußende des Betts, und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.
»Erkennst du den falschen?«, fragte Ben.
Sie errötete, sagte aber: »Ich hätte nicht gedacht, dass du schon so bald eine Prothese bekommen würdest.«
»Die ist nur provisorisch«, erwiderte er. »Lass mich dir meine Freunde vorstellen. Bingle kennst du ja schon.«
Der Hund wedelte mit dem Schwanz. Sie nickte nervös.
»Irene Kelly, Schwester Theresa, das ist Camille Graham.«
»Hallo«, sagte sie. Wir sagten ebenfalls hallo.
Eine Weile sagte niemand mehr etwas.
»Du kannst die Blumen auf die Kommode stellen, wenn du willst«, sagte Ben. Dann ging er ein bisschen aus sich heraus und fügte hinzu: »Falls sie für mich sind.«
Sie lächelte. »Ja, ich dachte –«
»Danke«, sagte er.
Sie stellte sie ab und blieb neben der Kommode stehen. Sie warf mir und Schwester Theresa einen Blick zu.
»Vielleicht sollten wir gehen«, sagte ich.
»Nein, bleiben Sie da«, protestierte Ben rasch. »Bitte. Bingle hat mir so gefehlt.«
Camille verschränkte die Arme. Nach kurzem Schweigen fragte er: »Und, wie ist es dir ergangen?«
»Okay«, antwortete sie.
»Triffst du dich noch mit –«
»Nein. Aber ich glaube, das weißt du.«
»Ja. David hat es mir erzählt. Tut mir Leid, dass es nicht
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