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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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ganze Wahrheit, aber die Wahrheit.
    Doch als ich mich hinlegte, konnte ich nicht schlafen. Ich war angespannt und empfand ein Unglück, dessen Grund ich nicht zu benennen wusste.
    Im Gegenteil – es gab nichts, weswegen ich hätte unglücklich sein müssen, sagte ich mir. Ich war sicher und heil zu Hause – im Gegensatz zu allen anderen, die vor einer Woche mit mir in die Berge gezogen waren. Ich konnte die Bilder ihrer Gesichter nicht abschütteln und ertappte mich dabei, wie ich speziell an Bob Thompson dachte, den ich nicht einmal hatte leiden können, was es mir irgendwie noch schlimmer erscheinen ließ, und ich versuchte, freundlich an ihn zurückzudenken, obwohl ich so wenig freundliche Gefühle ihm gegenüber hegte.
    Bingle kam herein und legte den Kopf auf das Bett neben mir. Ich streichelte ihn, bis ich hörte, wie er in einem Häuflein auf dem Boden zusammensank und seufzte. Dann kam Cody herein, ignorierte ihn geflissentlich, rollte sich aber in meinen Kniekehlen zusammen und schnurrte.
    Ich weiß nicht mehr, wie ich eingeschlafen bin, aber in dieser Nacht träumte ich, dass ich auf einem Feld voller Menschenstücke stand – nicht das Gemetzel der Realität, sondern schöne, ordentliche, ganze Körperteile: Köpfe und Rümpfe, Füße, Hände, Arme und Beine – alles ganz ohne Blut und völlig sauber, eher wie auseinander genommene Schaufensterpuppen als wie richtige Menschen. Es war meine Aufgabe, sie wieder zusammenzusetzen, und ich hatte das Gefühl, dass ich es unbedingt schaffen musste, aber die Mischung der Teile stimmte nicht, und ich machte einen Fehler nach dem anderen. Ich hatte den falschen Fuß an ein Bein gesetzt und bekam ihn nicht wieder los, und den falschen Hals an einen Kopf. Und dann begann ich den Gestank der echten Wiese zu riechen, den Todesgeruch, der immer stärker wurde – die Teile wurden schlecht, weil ich sie nicht schnell genug zusammensetzte. Manche der Köpfe waren böse auf mich; sie mussten meinetwegen sterben, erklärten sie und begannen meinen Namen zu brüllen, indem sie ihn als zornigen Protestgesang intonierten.
    Nach einiger Zeit merkte ich, dass es Frank war, der nicht brüllte, sondern leise meinen Namen sagte, mich festhielt und mir den Rücken streichelte. Ich zitterte und konnte verdammt lang nicht damit aufhören.
    »Riechst du es?«, fragte ich.
    »Was?«
    Als ich keine Antwort gab, hielten seine Hände einen Moment lang still, und dann fragte er: »Das Feld?«
    »Ja. Riechst du es? Ich glaube, es muss wohl an meinen Kleidern hängen oder an etwas, das ich mitgebracht habe – vielleicht sogar an Bingle –«
    »Irene – nein, ich rieche es nicht.«
    Ich sah ihm in die Augen, sah, dass er es ernst meinte, und sagte: »Ich muss raus aus dem Haus.«
    »Okay«, sagte er, da er meine Klaustrophobie schon zur Genüge kannte.
    Wir zogen uns an, trommelten alle drei Hunde zusammen und gingen ans Ende der Straße. Es war nach Mitternacht, und die Cops, die abgestellt worden waren, um oben an der Treppe, die zum Strand führte, Wache zu halten, waren von unseren Plänen nicht allzu begeistert, ließen uns aber passieren.
    Der Mond war aufgegangen, und obwohl er nicht voll war, schien er hell genug, um unseren Weg zu beleuchten. Ich sog die Salzluft in tiefen Atemzügen ein, und andere Gerüche schwanden. Der Anblick des endlosen Silberstreifens mondbeschienenen Wassers, das Geräusch der herankommenden und wieder zurückweichenden Wellen, das weiche Nachgeben des Sandes unter meinen Füßen – all das unterschied sich massiv von der Bergwiese aus meinem Traum. Die schrecklichen Bilder verblassten, und ich begann mich zu entspannen.
    Als mir langsam bewusster wurde, dass Franks große, warme Hand die meine hielt, sagte ich: »Entschuldige, du brauchst wahrscheinlich deinen Schlaf, und da zerre ich dich an den Strand.«
    »Ich hatte auch schon einige schlimme Nächte. Wenn man so etwas erlebt hat, kann man nicht erwarten, dass man zu Hause einfach dort weitermacht, wo man aufgehört hat.«
    »Nein.« Nach einem Moment sagte ich: »Diesmal weiß ich einfach nicht, wie ich von dort zurückkommen soll, Frank. Es steckt in mir. Es macht mir Angst.«
    Er legte mir einen Arm um die Schultern und sagte: »Vielleicht solltest du mit jemandem reden.«
    Ich gab ihm keine Antwort. Vor zwei Abenden hatte ich ihm alles erzählt, was in den Bergen passiert war. Er hatte geduldig zugehört, und obwohl es ihn empörte, wie Parrish mich terrorisiert hatte, und er vermutlich nichts

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