Grabesstille
Morgen las, fast wie ein Morgengebet. Natürlich war es kein Morgengebet, aber eine herrliche Anerkennung, selbst wenn Nicky das Lob dafür eingeheimst hatte.
Nicky hatte ja schließlich auch der Motte diese Methode, einen Hubschrauber außer Gefecht zu setzen, beigebracht – und noch andere Methoden. Jedenfalls hatte die Motte ihre Wahl getroffen. Und die Motte hatte Erfolg gehabt.
Die Motte war auf diese Leistung nicht nur stolz, weil sie perfekt gelungen war, sondern auch, weil es eine sehr rücksichtsvolle Form der Sabotage war, was der Aktion eine Raffinesse verlieh, die der Motte gefiel. Das Entfernen eines Ablasspfropfens konnte einen Hubschrauber flugunfähig machen, ohne ihn zu zerstören.
Das erneute Bellen des Nachbarhundes erinnerte die Motte an die zu erledigende Aufgabe. Die Ablasspfropfen verschwanden wieder im Werkzeugkasten. Die Motte nahm eine Brechstange heraus und betrat nach wenigen Sekunden die Garage.
Die Motte stellte den Werkzeugkasten von innen gegen die Tür, um sie geschlossen zu halten, drehte dann am Lichtschalter und lauschte dem leisen Blink-blink-blink und dem anschließenden Summen der Leuchtstoffröhren an der Decke.
Die Garage war sauber und ordentlich. Mehrere Pappkartons waren an einer Wand gestapelt, beschriftet mit den Namen der Zimmer: KÜCHE, SCHLAFZIMMER, BAD, GARAGE und – was die größte Anzahl von Kisten ausmachte, ARBEITSZIMMER. Neugierig musterte die Motte sie genauer. Oben auf jeder Kiste klebte ein kleiner Adressenaufkleber von der Art, wie man sie manchmal mit der Bitte um eine Spende zugeschickt bekommt. Auf diesen waren amerikanische Flaggen abgebildet. Es standen zwei Namen auf den Etiketten: Ben Sheridan und Camille Graham. Die Adresse war nicht diese hier.
Ben Sheridan. Die Motte wusste, dass Nicky wegen Ben Sheridan wütend war. Er dachte, er hätte Ben Sheridan getötet, dabei hatte er ihn nur verwundet.
Fürs Erste nur verwundet, dachte die Motte. Früher oder später würde er das Krankenhaus verlassen müssen. Und der arme Nicky, der in kein Krankenhaus konnte! Die Motte hatte ihn trösten wollen, sich aber weise zurückgehalten. Nicky war zu wütend gewesen, um irgendwelche Liebkosungen zu dulden. Eigentlich, dachte die Motte, konnte man Nicky gar nicht liebkosen. Er brauchte niemanden. Nicht einmal seine Motte.
Stirnrunzelnd zupfte die Motte am Adressaufkleber einer der Kisten mit der Aufschrift ARBEITSZIMMER. Er ging leicht ab. Die Motte steckte ihn vorsichtig ein. Mit einem Mehrzweckmesser durchtrennte die Motte das Klebeband, das die Kiste verschloss, öffnete sie und studierte ihren Inhalt. Bücher. Und nicht einmal die Bücher, die sich die Motte erhofft hatte – solche über forensische Anthropologie, in denen Bilder von Leichen sein könnten, sondern blöde, blöde Bücher von Jane Austen und James Baldwin und Charles Dickens und Graham Greene und Flannery O’Connor. Gedichte von Auden, Dickinson, Eliot, Housman, Hughes, Neruda und Poe.
Lasche, alte Bücher, die irgendwelche Kinder in der Schule lesen mussten! Mann, in jeder Stadtbücherei standen diese Bücher – warum sollte man sie kaufen? Und was hatte irgendeines von ihnen schon über das Leben in der heutigen Zeit zu sagen? Nichts! Hatten die Autoren jemals Leute wie Nicky und die Motte kennen gelernt? Nein, nie!
Angewidert klappte die Motte die Kiste wieder zu und ging ins Haus.
Die Tür zwischen Haus und Garage war nicht verschlossen. Die Motte trat in die Küche und blieb regungslos stehen.
Es war bereits jemand da gewesen. Die Motte spürte, dass das Haus geöffnet und gelüftet worden war. Die Motte holte tief Atem und versuchte, sich vom Geruch des Hauses die Geschichte erzählen zu lassen, wie Nicky es vielleicht getan hätte.
Es roch immer noch nach Hunden. Wenn man Hunde ins Haus ließ, selbst stubenreine Tiere, blieb dennoch ihr Hundegeruch hängen. Während sie sich bemühte, sich davon nicht stören zu lassen, ging die Motte weiter durchs Haus. In der Küche roch es nach Putzmitteln – Chlor und irgendetwas mit Zitrone. Die Motte öffnete den Kühlschrank. Die Fächer waren blitzsauber. Es war weder Milch da noch Fleisch oder irgendetwas anderes, was verderben könnte. Nur ein paar Gläser und eine angebrochene gelbe Schachtel Natron standen darin.
Der Müll war ausgeleert worden. Im Kücheneimer hing eine frische weiße Plastiktüte. Das Einzige, was darin lag, war ein zerdrücktes Papierhandtuch, das nach Fensterputzmittel roch.
Es war eindeutig, dass seit
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