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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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»Zuerst, bevor ihr eingefallen ist, dass er ja wohl die Vordertür benutzt hätte, dachte sie, dass Sheridan aus dem Krankenhaus gekommen sei. Sie meinte nämlich, der Handwerker hätte gehinkt.«
    Frank zog die Augenbrauen hoch.
    »Ja«, sagte der Detective. »Genau, was ich mir auch gedacht habe. Flüge von San Francisco gehen jede Stunde.«
    »Wer ist denn in San Francisco?«, wollte ich wissen.
    »Phil Newly – eigentlich nördlich davon, aber nicht allzu weit von der Stadt entfernt. Er besucht seine Schwester.«
    »Die Frau von gegenüber meinte, in ihren Augen hätte es wie ein vorgetäuschtes Hinken gewirkt, aber andererseits wusste sie auf einmal nicht mehr, auf welchem Bein der Typ gehinkt hat.«
    »Vielleicht sollten wir noch mit jemand anderem sprechen«, sagte Frank.
    »Es war nicht Camille«, versicherte Ben nachdrücklich. »Ausgeschlossen. Sie würde so etwas nie tun. Außerdem besitze ich nichts, was sie haben wollen würde.«
    »Trotzdem würde ich dieser Spur gern nachgehen«, erklärte Frank.
    Widerwillig gab ihm Ben Camilles private Adresse und die ihres Arbeitsplatzes. »Falls sie es aus unbegreiflichen Gründen doch war, erstatte ich keine Anzeige.«
    »Haben Sie sich gütlich getrennt?«, wollte Frank wissen.
    Nach längerem Schweigen antwortete Ben: »Nein.«
    »Danke, dass Sie das ehrlich zugeben«, sagte Frank. »Und wie Sie schon sagen: Wahrscheinlich war sie es nicht.«
    Frank rief mich in der Zeitung an, um mir zu berichten, dass Camille Graham an diesem Tag nicht in der Arbeit gewesen war. »Sie hat sogar ganz aufgehört, dort zu arbeiten«, fuhr er fort. »Wir haben sie zu Hause angetroffen, und sie behauptet, sie hätte die letzten paar Tage mit einer Sommergrippe im Bett gelegen. Sie wirkte wirklich ein bisschen verschnupft.«
    »Du hast sie gesehen?«
    »Ja«, bestätigte er belustigt. »Sie ist eine Wucht, aber mir sind Brünette lieber.«
    »Selbst wenn gerade Semesterferien sind, kannst du dir vorstellen, dass eine Frau, die aussieht wie Camille, unbemerkt über einen Campus marschiert? Haben denn die Studenten heutzutage keine Antennen für solche Frauen?«
    »Also, Irene! Das hätte fast eine sexistische Bemerkung sein können«, erwiderte er.
    »Du weißt, was ich damit sagen will, oder, du alter Frauenrechtler?«
    »Möglich ist alles – bei jedem. Ich möchte nur, dass du das nicht vergisst.«
    Wir näherten uns dem Tag, an dem Ben aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Er behauptete zwar immer noch, dass er uns nicht zur Last fallen wolle, aber er protestierte nicht mehr ganz so heftig. Er litt sowohl unter Phantomgefühlen als auch unter Phantomschmerzen und war gedrückter Stimmung.
    Dr. Riley hatte ihn darauf vorbereitet, dass beides häufige Phänomene seien, vor allem in der Zeit kurz nach der Operation.
    Das Phantomgefühl ließ Ben den fehlenden unteren Teil seines linken Beins »spüren« – einschließlich Knöchel, Fuß und Zehen, als ob alles noch vorhanden wäre. Eines Morgens im Halbschlaf versuchte er, völlig überzeugt davon, dass sein linker Fuß noch vorhanden wäre, aus dem Bett zu steigen, und stürzte. Obwohl er sich an Hüfte und Schulter verletzte, erlitt sein Bein zum Glück keine weiteren Schäden. Ein andermal juckten ihn die Zehen am linken Fuß entsetzlich. Ich versuchte sogar, ihm den Prothesenfuß zu kratzen, aber es war zwecklos. Drei grässliche Stunden lang musste er mit dem Juckreiz leben, bevor das Gefühl von selbst verschwand.
    Dieses »Vorhandensein« des fehlenden Glieds war ein seltsames Gefühl, sagte Ben, aber nicht unbedingt schlimm. Die Phantomschmerzen waren etwas anderes. Nicht lange nach der Operation bekam Ben Krämpfe in seinem linken Fuß und Knöchel. Aber weil diese Glieder nicht da waren, hatte er nicht die leiseste Ahnung, was er dagegen tun sollte.
    Manchmal massierte eine der Schwestern seinen »Amputationsstumpf«, wie das Personal das nannte, was von seinem unteren linken Bein noch verblieben war. Er reagierte sehr empfindlich auf Berührung und war nach wie vor von der Operation geschwollen, aber die Massagen schienen zu helfen.
    Ben erzählte mir, dass er die Phantomschmerzen häufiger spät in der Nacht spürte, wenn er allein war, und in speziellen Regionen des fehlenden Glieds – manchmal trat es als scharfer, stechender Schmerz in der Wade auf, ein andermal hatte er das Gefühl, als hätte man ihm einen Elektroschock durch die Ferse gejagt. Manchmal halfen nur noch starke Schmerzmittel – die ihn

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