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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Glas gepressten Händen hineinzusehen.
    »Jemand kommt zu spääät zur Arrrrbeit!«, sang Parrish, das Spottlied eines kleinen Kindes. »Die Leidenden werden unleidlich!«
    Er empfand diese Bemerkung als einen derart ermutigenden Beweis dafür, dass sein wahres, schlaues Ich ein Comeback hinlegte, dass er den ganzen Weg zur Landstraße lachen musste und – wenn er bremste oder eine Kurve fuhr – das gelegentliche Rumpeln der herumrollenden toten Last im Kofferraum überhörte.
     

38
     
    MONTAG NACHMITTAG, 11. SEPTEMBER
    Las Piernas
     
    Ich schaute aus dem Fenster von Jo Robinsons Praxis im ersten Stock, überlegte beiläufig, welche anderen geplagten Seelen schon diesen Blick genossen haben mochten, und sah unterdessen zu, wie der Regen rote und goldgelbe Blätter auf den schwarzen Asphalt des Parkplatzes klatschte. Herbst. Fast hätte ich bis zum Herbst durchgehalten.
    »Ben hat also den Sommer mit Ihnen und Frank verbracht«, begann sie. Ich hatte versucht, ihr zu schildern, was passiert war, seit ich sie vor Bens Krankenzimmer zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Ja«, antwortete ich und betrachtete den Regen. Wenn es nie wieder geregnet hätte, dachte ich, wäre es mir gut gegangen.
    Was für eine Lüge.
    »Ben und Bingle sind in Davids Haus zurückgezogen. Ihm geht’s dort gut. Bingle auch.«
    »Und Ihnen?«
    Ich gab ihr keine Antwort.
    »Warum sind Sie hier?«, fragte sie.
    »›Um Gott zu erkennen und zu lieben und ihm zu dienen, auf dass ich glücklich sein möge im nächsten Leben‹«, sagte ich.
    Sie wartete.
    Ich sah zu ihr hinüber. »Tut mir Leid, die reflexhafte Antwort des Baltimore-Katechismus auf diese Frage. Sie wissen doch, weshalb ich hier bin.«
    »Sagen Sie’s mir.«
    »Ich bin hier, weil ich in der Arbeit etwas zerbrochen habe.«
    »Wirklich? Dann wäre Ihnen aber meiner Meinung nach eher mit einem Eisenwarenladen gedient.«
    »Ihrer Meinung nach, was?«
    »Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
    Und so erzählte ich ihr, wie mir eines Tages, als ich in die Arbeit kam, ausgerichtet wurde, dass ich ins »Gottesbüro« Winston Wrigleys III. kommen sollte – so nannten die Angestellten nämlich den Glaswürfel neben der Redaktion. Wrigley lässt sich dazu herab, das Gottesbüro aufzusuchen, wenn er seine Lakaien in Aktion sehen will, oder genauer gesagt, wenn er die neuen, jungen Mitarbeiterinnen begaffen will, um die er die Belegschaft ergänzt hat.
    In letzter Zeit hatte es keine neuen Ergänzungen gegeben – die Gesetze gegen sexuelle Belästigung bedeuteten eine schwere Einschränkung für WWIIIs Vorlieben – und so wurde in der nach Gerüchten lechzenden Redaktion sofort heftig getratscht. Das Getratsche wurde dadurch noch befeuert, dass er zwei elegant gekleidete Paare bei sich hatte, die sich am Ende des Raumes mit ihm um einen Konferenztisch versammelten. Bevor mich John Walters zu sich rief, hatte ich gehört, dass die Zeitung an eine große Kette verkauft werden, es Entlassungen geben und John gefeuert werden sollte, weil er zugelassen hatte, dass Morry Wrigley beleidigt hatte, bevor er sich nach Buffalo absetzte.
    Die Gerüchte, die in Umlauf kamen, nachdem ich zu Wrigley beordert worden war, hörte ich leider nicht mehr, aber Lydia berichtete mir später, eines der besten davon sei gewesen, dass ich aufgefordert werden sollte, Johns Nachfolge anzutreten, wenn er gefeuert worden war, weil er Morry nicht daran gehindert hatte, Dampf abzulassen.
    Als ich mich dem Gottesbüro näherte, war ich bereits müde und angespannt. Ich hatte in letzter Zeit nicht gut geschlafen und die drei Nächte zuvor fast überhaupt nicht.
    Bis vor drei Tagen hatten die Morde in Oregon die letzten stichhaltigen Hinweise auf Parrishs Aufenthaltsort geliefert. Im Juni hatte die Entdeckung der Leichen – eine davon ein beinloser Torso – zweier Arzthelferinnen Parrish wieder in die Schlagzeilen gebracht. Die Fahndung nach ihm wurde verstärkt, doch der Rest des Sommers verstrich, ohne dass man ihm auf die Spur gekommen wäre. Ich begann zu hoffen, dass ihn ein Auto überfahren hatte.
    Doch drei Tage bevor ich in Wrigleys Reich zitiert wurde, hatte die Polizei in Las Piernas eine Meldung erhalten, der zufolge Parrish nicht weit von Las Piernas gesehen worden war.
     
    Obwohl die Berichte von Parrishs Auftauchen meist jeder Grundlage entbehrten, ging die Polizei allen Spuren nach. Und diese Meldung führte zur Entdeckung einer Frauenleiche in einem Müllcontainer.
    Seitdem frage ich mich, wie alles

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