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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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laut eigener Aussage mitunter darüber nachgrübeln ließen, ob er zur Morphiumsucht verdammt war.
    Das waren seine schlimmsten Tage in der Klinik. Doch im Großen und Ganzen schien er klare Pläne für die Zukunft zu haben.
    »Ich will in der Lage sein, selbstständig zu leben«, erklärte er regelmäßig, wenn die Sprache darauf kam, ob er bei uns wohnen wollte.
    »Da wollen wir ja beide das Gleiche«, sagte ich. »Sie sind nicht eingeladen, für immer bei uns einzuziehen. Ich weiß nicht einmal, ob Sie nach einem halben Jahr noch da sein sollten.«
    Er lachte.
    »Wir stehen Ihnen so oder so bei. Das wissen Sie doch?«
    »Ja«, antwortete er.
    »Der einzige Unterschied besteht darin, dass Sie nicht aufräumen müssen, bevor wir vorbeikommen.«
    »Ich werd’s mir überlegen«, sagte er.
    Es war an dem Tag, als wir die Nachricht aus Oregon hörten, dass er sich entschloss, bei uns zu wohnen – nicht wegen seiner eigenen Angst vor Nicholas Parrish, erklärte er mir, sondern wegen meiner.
     

37
     
    DONNERSTAG NACHMITTAG, 1. JUNI
    Ost-Oregon
     
    Die Empfangsdame, beschloss Parrish, musste verschwinden.
    Immer wenn sie glaubte, dass er nicht hinsah, starrte sie ihn an.
    Dumme Nuss. Er sah immer hin.
    Sie hatte Angst vor ihm, das wusste er. Er hatte einmal ihr gegenüber die Beherrschung verloren, als er das erste Mal hier gewesen war. Seitdem lebte sie nur durch seine Duldung weiter.
    Eine Arzthelferin öffnete eine Tür und lächelte ihn an. »Mr. Kent?«
    Fettsau. Was zum Teufel gab’s denn da zu lächeln? Vielleicht würde sie auch verschwinden. Vielleicht würde keine einzige Frau im Staate Oregon mehr leben, wenn er ihn verließ. Gar nicht ausgeschlossen, dachte er. Er schmunzelte, als die Frau ihm den Blutdruck maß.
    Schließlich ließ sie ihn allein darauf warten, dass dieser traurige Abklatsch eines Arztes sich bequemte, nach ihm zu sehen. Der tattrige alte Sack hätte vermutlich in einer großen Stadt kein Bein auf den Boden gebracht, dachte Parrish. Er vertrieb sich die Zeit, die er auf den Blödmann warten musste, damit, sich eine Geschichte über dessen Vergangenheit auszudenken, eine, in der der Arzt illegale Abtreibungen durchgeführt und seine Zulassung verloren hatte und dann in dieses kleine Kaff geflüchtet war, wo keiner helle genug war, um seine gefälschten Urkunden und Bescheinigungen infrage zu stellen. Er überzeugte sich selbst so sehr davon, dass er die kunstvoll beschriftete Urkunde an der Wand genau studierte, als der Arzt hereinkam.
    »Alt, aber echt, genau wie ich«, scherzte der Arzt. »Dann schauen wir uns mal Ihre Schulter an, Mr. Kent.«
    Ach, schauen wir mal.
    »Es scheint jetzt recht gut zu heilen«, erklärte der Arzt. »Gegen das Narbengewebe kann man nichts machen, aber Sie können von Glück sagen, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist. Na ja, ich halte Ihnen keinen Vortrag über das Ignorieren von Stichwunden – das haben Sie ja alles schon von mir gehört.«
    Das hatte er allerdings. Er musterte den Arzt und überlegte, ob er ihn auch auf seine Liste setzen sollte, doch auf einmal betrachtete ihn der alte Mann mit unbewegtem Blick. Parrish sah beiseite und sagte: »In Zukunft lasse ich mich immer gleich behandeln.«
    Scheiß auf den alten Drecksack, dachte er und blickte heimlich zu ihm auf. Gott würde den dämlichen Quacksalber ohnehin bald abberufen. Sinnlos, sich seinetwegen noch die Mühe zu machen.
    Kurz überlegte er, ob irgendjemand hier ihn erkannt hatte. Doch obwohl erst zwei Wochen vergangen waren, war er nicht mehr das Thema Nummer eins in den Nachrichten. Natürlich käme er bald wieder auf die Titelseiten, aber inzwischen sah er überhaupt nicht mehr aus wie auf den Fotos, die ohnehin seit über einer Woche kein Mensch mehr gesehen hatte. Er hatte sich die Haare blond gefärbt und trug farbige Kontaktlinsen. Was in diesem mickrigen Nest wahrscheinlich nicht mal nötig war.
     
    Diese Nacht dachte er bei der Arbeit an Irene Kelly, die seine Schulter steif und wund gemacht hatte. Er mochte keine Narben. Er mochte keine Schmerzen. Bei diesem Gedanken musste er ein bisschen kichern. Nicht meine eigenen, fügte er im Stillen hinzu, freute sich, dass sein Humor zurückkehrte, und machte sich wieder an sein Werk.
     
    Am nächsten Morgen fuhr er langsam an der Praxis vorbei und schmunzelte, als er fast ein Dutzend Leute draußen vor der Tür warten sah, deren Mienen zwischen Ärger und Unverständnis schwankten. Einer von ihnen versuchte mit gewölbten und ans

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