Grabesstille
brauchte ein paar Minuten, bis er die Fassung wieder gefunden hatte.
Schließlich zog er seine Handschuhe an und öffnete die Gefriertruhe erneut. Einen Moment lang starrte er auf sie hinab. Dann zeichnete er mit einem behandschuhten Finger die Umrisse eines Muttermals innen an ihrem Schenkel nach.
»Du warst seine Hure, also hat er das hier natürlich gesehen. Hat er es geliebt oder gehasst? War es einer deiner Makel oder einer deiner Reize?«
Die Plastikfolie unter der Toten knisterte, als er sie anhob. Einen Moment lang drückte er sie an sich und sagte: »Ich finde es ja so schade, dass wir nicht mehr Zeit zusammen verbringen konnten, Liebling. Aber du kannst es einem Jungen wie mir nicht verdenken, dass er versucht hat, einen Kopf schneller zu sein!«
Er wies sich selbst zurecht, als er seinen Übermut wieder unter Kontrolle hatte. Wenn er nicht aufhörte, so geistreich zu sein, würde das arme, kleine Schätzchen tauen, bevor sie sie fanden.
Er tanzte im Walzertakt zum Auto, während er sie fest an sich drückte.
Dabei schweiften seine Gedanken ein bisschen ab. Er musste an Irene Kelly denken, und seine Wut kehrte zurück. »Wir werden’s ihnen zeigen, was, Herzchen?«, sagte er zu seiner Tanzpartnerin und legte sie liebevoll in den Kofferraum.
54
MONTAG NACHT, 25. SEPTEMBER
Las Piernas
Schon bald wurde uns klar, dass es keine so geniale Idee war, sich Videos von Bingle und David anzusehen. Nach zwei Minuten des ersten Bandes stellte Ben es ab und rief in der Tierklinik an. Bingle schlief, und sein Herzschlag war normal.
Gute Neuigkeiten, aber Ben sah todunglücklich drein. Er machte sich Vorwürfe und fragte sich, ob er Bool hätte behalten sollen, damit Bingle nicht alleine gewesen wäre. »Warum geht Parrish nicht einfach auf mich los?«, fragte er. »Und lässt den Hund in Ruhe.«
Später sagte er: »Bingle ist es nicht gewöhnt, über Nacht in einem Käfig eingesperrt zu sein. Was, wenn er aufwacht und glaubt, ich gebe ihn weg?«
Frank rief an und berichtete uns, dass Houghton in der Nähe von Dallas lebte, in Irving, Texas. »Sieht nicht danach aus, als hätte er in den letzten Monaten die Umgebung von Dallas verlassen, aber wir ermitteln das noch genauer.«
In dieser Nacht kam Jack mit mir zur Arbeit, eine Abmachung, mit der John mehr oder weniger einverstanden war. »Wenn das dagegen hilft, dass wieder ein uniformierter Cop in der Redaktion steht, gut«, erklärte er. »Aber sagen Sie Wrigley nichts davon. Seit er mitbekommen hat, wie massiv die Polizei das Gebäude überwacht, ist er so nervös wie ein Truthahn vor Thanksgiving. Heute Nachmittag hat er den Polizeichef angerufen, um sich zu beschweren.«
»Er hätte wohl lieber Nick Parrish in seiner Redaktion.«
»Ich glaube nicht, dass er, äh, unbedingt daran glaubt, dass Parrish sich hier in der Nähe herumtreibt. Vielleicht will er es nicht glauben.«
In dieser Nacht nahm ich Jack mit nach oben ins Café Kelly. Als Stinger, Travis und Leonard hörten, was Bingle zugestoßen war, fürchtete ich schon, Stinger werde von Haus zu Haus gehen und nach Nick Parrish suchen, während Leonard und Travis als seine Spießgesellen agierten.
Ich fragte ihn nach Tante Mary, und seine Stimmung veränderte sich auf der Stelle. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich sie fragen, ob sie mich heiraten will«, sagte er.
Als ich nach Hause kam, sah ich, dass es sich Cody auf Franks Brustkorb bequem gemacht hatte, doch die Hunde waren nirgends zu sehen. »Sie sind bei Ben drinnen«, erklärte Frank schläfrig.
Ich weiß nicht, ob ein Traum mich weckte oder ob ich Ben nach draußen gehen hörte. Was es auch war, auf jeden Fall wusste ich gegen vier Uhr morgens, dass ich außerstande war, wieder einzuschlafen. Ich zog mich an und ging auf die Terrasse hinaus, wo Ben bereits angezogen saß, Kaffee trank und Deke und Dunk streichelte.
»Ich habe in der Tierklinik angerufen«, erklärte er. »Sie sagen, Bingle ist auf den Beinen und bellt. Sie glauben, dass er wieder gesund wird.«
»Tolle Neuigkeiten«, sagte ich. »Wenn er bellt, muss es ihm schon besser gehen.«
»Ja. Ich habe ihnen erklärt, wie man ›sei still‹ auf Spanisch sagt. Sie meinten, ich könnte ihn um acht abholen.«
»Dann haben Sie ja nur noch vier Stunden zu warten.«
Er schmunzelte. »Genau. Erst war ich zu besorgt, um zu schlafen. Und jetzt bin ich zu erleichtert. Albern, was?«
»Nein. Sie wissen doch, dass ich einer der größten Fans von
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