Grabesstille
halte. Wissen Sie, wo dieses Vertrauen herrührt? Von Familien wie der dieses Jungen. Sie schenken es Carlos, er reicht es an mich weiter, und ich habe es missbraucht – und wofür? Für das Bedürfnis, einer Ex-Freundin gegenüber zu prahlen? Erbärmlich!«
»Menschlich. Und Carlos ist ein fairer Mann, Ben. Er muss doch –«
»Oh, er war mehr als fair zu mir. Ich habe ihm erzählt, was sich abgespielt hat, und zwar in der festen Erwartung, dass es mein letzter Fall für seine Abteilung war. Er hat versucht, mir zu helfen – mir zu helfen! Er hat mir Ratschläge gegeben, wie ich mit dem Medienrummel umgehen sollte, der unweigerlich folgen würde. Und der kam wirklich. Ich muss ungefähr eine Million mal ›Kein Kommentar‹ gesagt haben. Die Campuspolizei musste die Reporter von dem Labor fern halten, in dem ich arbeite. Das Labor selbst hat keine Fenster, aber wir mussten jemanden abstellen, der die Tür bewachte, nachdem einer der Fotografen versucht hatte, eine Aufnahme von den Knochen zu schießen. Schließlich gaben die Medien auf.«
»Ben, manchmal –«
»Nein, das war noch nicht alles. Die Medien haben aufgegeben, doch das hat für die Familie nichts geändert. Sie waren natürlich sehr wütend. Sie haben um ein Treffen mit Carlos und mir gebeten. Die Presse hatte ihnen erklärt, dass ihr Junge gefunden worden sei, und wir bestätigten das weder, noch dementierten wir es. Sie fühlten sich von uns gequält. Aber wir konnten lediglich erklären, dass wir noch nicht bereit waren, zu diesem Zeitpunkt eine Identifizierung vorzunehmen, und ihnen versprechen, dass sie die Ersten sein würden, wenn wir etwas Neues erführen.«
»Was bei ihnen natürlich den Eindruck hervorrief, sie würden abgewimmelt.«
»Ich fühlte mich die ganze Zeit schrecklich, aber Carlos ließ mich versprechen, dass ich ihnen nicht mehr verriet. Sie haben Carlos erzählt, der Reporter hätte ihnen gesagt, dass ich derjenige gewesen sei, der die Story hatte durchsickern lassen. Er erklärte ihnen – völlig wahrheitsgemäß –, dass keiner von uns je mit diesem Reporter gesprochen hätte und niemand, der mit einem von uns zusammenarbeitete, den Fall ihm gegenüber je erwähnt hätte. Das stellte sie zwar nicht ganz zufrieden, und sie sprachen davon, einen Anwalt einzuschalten, aber zum Glück ist es nie so weit gekommen. Das ist Carlos’ Verdienst.«
»Und was haben Sie sonst noch gemacht?«
»Wie?«
»Ich kenne Sie noch nicht besonders lange, Ben, aber ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, dass Sie nicht einfach ›Kein Kommentar‹ sagen und abwarten würden, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
»Das hätte ich sogar getan, wenn David nicht gewesen wäre. Er hat Ellen und ein paar andere Doktoranden zusammengetrommelt, mich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und gesagt: ›Bool und Bingle wollen in der Wüste Knochen suchen gehen.‹ Wir suchten sechs Wochenenden nacheinander und fanden weitere Leichenteile des ersten Jungen. Wir wollten gerade aufgeben, als Bingle schließlich die Schienbeine des zweiten Jungen aufspürte – in einiger Entfernung zur Leiche des ersten Jungen. Danach suchten wir intensiver weiter und fanden noch mehr.«
»Haben Sie sich dann nicht besser gefühlt?«
»Eigentlich nicht. Es war besser für die Familie, aber ich litt immer noch unter dem, was ich getan hatte. Das Endergebnis ist nicht der Punkt. Allein dadurch, dass wir den zweiten Jungen gefunden hatten, wurde mein Vertrauensbruch nicht ehrenwerter. Es hätte ebenso gut sein können, dass wir gesucht und gesucht und ihn nie gefunden hätten.«
Schweigend saßen wir eine Weile da, bis er sagte: »Obwohl die Schuld im Grunde bei mir liegt, weil ich mich in dieser Situation unethisch verhalten habe –«
»Ben, sind Sie nicht ein bisschen hart mit sich selbst?«
»Lassen Sie mich zu Ende erzählen. Ich wollte sagen – ich habe wirklich eine negative Einstellung zur Presse. Ich war unfair zu Ihnen. Dafür entschuldige ich mich.«
»Entschuldigung angenommen. Wir sind nicht alle so verkommen wie dieser Idiot.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ein solcher Typ reicht, um einen für den Rest des Lebens argwöhnisch zu machen. Ein bisschen Gerechtigkeit trat aber doch noch ein: Er kommt nicht mehr im Fernsehen.«
»Das wundert mich nicht. Und Camille hat mit ihm bekommen, was sie verdient hat, würde ich sagen.«
»Das hat auch nicht gehalten. Sie hat David erzählt, dass sich der Kerl von ihr getrennt hat, als ich mich geweigert
Weitere Kostenlose Bücher