Grabesstille
essen zu gehen. Sie meinte, sie hätte ein paar Dinge, die sie mir geben wolle, Dinge, die ich im Haus zurückgelassen hatte – ein paar CDs und einen alten Wecker. Also trafen wir uns, und sie gab mir die Sachen. Sie erzählte mir, dass sie jemand Neuen kennen gelernt hätte. Das verletzte mich – vor allem meinen Stolz –, aber ich log und erklärte, dass ich mich für sie freute.
Dann fragte sie mich, woran ich gerade arbeitete. Ich hatte keine Veranlassung, ihr irgendetwas zu verraten, doch ich saß damals an einem Fall, der viel Aufsehen erregt hatte. Vor fünf Jahren sind zwei Oberstufen-Schüler zum Wandern in die Wüste gegangen und verschwunden. Eine unvollständige Leiche wurde gefunden, und es sah danach aus, als könnte es einer der Jungen sein. Ich war aufgefordert worden, daran zu arbeiten. Ich tat es und stand kurz davor, eine Identifizierung vorzunehmen.
Ich schilderte ihr, was die Identifizierung erschwerte: die lange Zeit, die verstrichen war, die Einwirkung des Wetters, Tiere, die die Knochen beschädigt hatten, und so weiter. Ich erzählte ihr, dass ich den Fundort der Knochen aufsuchen und ein Team mitnehmen wolle, um zu versuchen, noch weitere Leichenteile zu finden.«
Er schüttelte den Kopf. »Dann fragte sie: ›Was glaubst du, welcher Junge es ist?‹ Und – und ich weiß zwar nicht warum, aber ich gab eine Vermutung ab. Ich erklärte ihr mehrmals, dass ich mir nicht sicher sei. Aber egal. Das war etwas, was ich nie, nie hätte tun sollen.«
»Sie hat es weitererzählt.«
»Ja, allerdings. In meiner ganzen Egozentrik hatte ich völlig vergessen, Camille zu fragen, wer ihr neuer Freund sei und was er von Beruf war. Ich glaube, der Satz, den er in der ersten Fernsehübertragung – die auf der Wiese vor dem Haus einer der Familien stattfand – sprach, lautete: ›Quellen, die den forensischen Anthropologen nahe stehen, die an dem Fall arbeiten …‹ Er stand der Quelle verflucht viel näher als ich seinerzeit.«
»Da hat sie Ihnen übel mitgespielt – aber nichts ist schlimmer als die Rache einer verlassenen Frau, das ist ja bekannt. Mehr als fahrlässig von ihm, die Information nicht noch durch jemand anderen bestätigen zu lassen als durch Ihre Ex. Aber ich kann Ihnen versichern, Ben, Sie sind nicht der erste Mann, der durch eine Freundin oder Ehefrau unwillentlich etwas an die Presse hat durchsickern lassen. Denken Sie nur an John Mitchell damals bei Watergate.«
Er sah mich an und seufzte. »Wenn das alles gewesen wäre, Irene, würde ich Gott danken und es als Lehre verbuchen.«
»Da kann ich Ihnen nicht folgen.«
»Es war der falsche Junge.«
»Sie meinen –«
»Ja. Ich meine, ein Mann und eine Frau und deren zwei jüngere Kinder, Leute, die fünf Jahre lang gewartet hatten, um zu erfahren, was ihrem Sohn und Bruder zugestoßen war – bei diesen Leuten stand ein Reporter vor dem Haus und fragte sie vor laufenden Kameras, ob sie schon von der Polizei gehört hätten, dass vor über einer Woche die Leiche ihres Jungen in der Wüste gefunden worden sei und demnächst deren sichere Identifikation bekannt gegeben werden würde.«
»O Gott.«
»Er machte auch Aussagen über den Zustand der Leichenteile, die fast Wort für Wort dem entsprachen, was ich Camille erzählt hatte.«
»Wodurch Sie sich noch übler fühlten.«
»Nicht übler, als sich die Familie gefühlt haben muss.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Der amtliche Leichenbeschauer hat mich angerufen und gesagt, sie seien aufgefordert worden zu bestätigen, dass eine Identifizierung unmittelbar bevorsteht. Carlos Hernandez, kennen Sie ihn?«
»Ja.«
»Er hatte es live in den Fünf-Uhr-Nachrichten gesehen und mir empfohlen, es mir um sechs anzusehen.« Ben schüttelte den Kopf. »Ihre Gesichter, als der Reporter es ihnen sagte! Guter Gott! Das werde ich nie vergessen, solange ich lebe. Um sechs hatten sie ihn dann schon in ihr Wohnzimmer gebeten und zeigten ihm Fotos von dem Jungen. Das Schlimmste war, dass ich auch wusste, dass sie sich zugleich erleichtert und erlöst fühlen würden, nachdem sie jahrelang in Sorge und Ungewissheit gelebt hatten, und ich ihnen mitteilen müsste, dass es alles ein Irrtum war und ihr Sohn überhaupt nicht gefunden worden war.«
»Und Sie haben sich eingebildet, Sie seien derjenige, der die Familie quält, nicht dieser Typ?«
»Es war meine Verantwortung! Der Leichenbeschauer hatte mir diese menschlichen Überreste anvertraut. Er hatte mir vertraut, dass ich den Mund
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