Grabesstille
gute Idee, Ms. Kelly«, lobte Ben, der gerade vorsichtig Erde von dem Plastik abschabte. »Diesmal würde ich gern ohne neugierige Gaffer arbeiten.«
»Neugierige Gaffer?«, wiederholte ich empört. »Ich bin ein Profi, der hier seine Arbeit tut. Wenn Sie diesen Gedanken vielleicht in Ihren Dickschädel kriegen –«
»Was für ein Beruf. Sie profitieren vom Leid anderer Menschen –«
»Entschuldigen Sie bitte, Sankt Ben von den Gebeinen, aber –«
»Sie verhökern die Einzelheiten über das Leid eines anderen an jeden, der bereit ist, am Zeitungskiosk eine Münze springen zu lassen –«
»Ben«, hörte ich eine Stimme hinter mir sagen. »Bitte.« David war mit der Leine zurückgekehrt.
Ben sah beiseite, konnte aber nicht verhehlen, welche Mühe es ihn kostete, seinen Ärger zu beherrschen. Lange sah er mit finsterer Miene auf seine behandschuhten Hände hinab, bevor er sich wieder daran machte, weiter an der Erde zu kratzen.
David leinte Bingle an und sorgte dafür, dass der Hund auf mein Kommando bei Fuß ging. Dann begleitete er uns zum Waldrand. Er wirkte bedrückt.
»Würde Bingle ohne Leine nicht bei mir bleiben?«, fragte ich.
»Hmm? Oh – nein, leider nicht. Er versteht, dass er, wenn ich seine Leine jemand anderem gebe, bei dem Betreffenden bleiben muss. Sonst könnte ich mir nicht sicher sein, ob er nicht auf die Idee kommt, herzukommen und nachzusehen, was ich so treibe. Er könnte davonrennen und Sie mitten im Wald stehen lassen.« Er schmunzelte. »Ich könnte ihn vermutlich dazu bringen, Sie zu suchen, aber es ist für alle Beteiligten einfacher, wenn wir ihm die Sachlage von vornherein klarmachen.«
»Aha – die Leine ist also dazu da, dass ich nicht verloren gehe.«
Er lachte. »Genau.«
Ich dachte, er würde am Waldrand stehen bleiben, doch er ging noch ein Stück mit hinein. »Wegen Ben«, sagte er unvermittelt. »Er hat ein Problem mit Reportern. Ich weiß, dass er barsch sein kann –«
»Barsch?«
»Grob.«
»Ja.«
»Okay, grob«, sagte er. »Aber das sollten Sie nicht persönlich nehmen. Ich weiß, dass er Sie abgesehen von Ihrem Beruf in Ordnung findet.«
»Dazu muss ich mir unbedingt gratulieren!«
»Ich stelle mich gerade nicht besonders geschickt an, was?«
»Sie machen Ihre Sache gut. Entschuldigen Sie. Ich sollte meine Wut auf ihn nicht an Ihnen auslassen. Wenn Sie mir damit sagen wollen, dass er ein gutes Herz hat – das weiß ich bereits.«
»Ja?«, fragte er ungläubig.
»Ja, und das nicht nur, weil Parrish als Vergleichsmaßstab hier ist. Ich glaube, zum ersten Mal habe ich es richtig wahrgenommen, als Ben Sie gefragt hat, ob Bingle bei mir schlafen kann – in einer Nacht, von der ich glaube, dass er sich eigentlich den Hund ausleihen wollte, um seine eigenen Albträume zu lindern.«
David nickte.
»Außerdem mag Richter Bingle Ben«, sagte ich.
David kniete sich auf Augenhöhe zu Bingle hinab und streichelte dem Hund Nacken und Ohren. Bingle senkte den Kopf, stupste damit gegen Davids Brust und blieb so, während er leise, tiefe Freudenlaute von sich gab. »Bingle ist ein guter Richter«, erklärte David. »Er mag Sie auch.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber ich vermute, Sie wollten einige Entschuldigungen für Ihren anderen Freund anbringen?«
»Eigentlich keine Entschuldigungen. Ich dachte nur, wenn Sie wüssten – er hat seine Gründe dafür, der Presse zu misstrauen.«
»Warum?«
»Erst letztes Jahr hat er –« Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und überlegte kurz, bevor er sagte: »Vor zwei Jahren, als er an einem Flugzeugabsturz arbeitete, hat eine Fernsehreporterin abgehört, wie Ben mit jemandem gesprochen hat, indem sie eines dieser Spionagemikrofone verwendet hat.«
»Ein Parabolmikrofon.«
»Ja. Sie ging auf Sendung und zitierte ihn falsch. Das passiert uns allen mal, aber diese Fehlinformation veranlasste die Familien der Opfer, zu hoffen, dass sie – dass die Toten einigermaßen intakt wären. Wissen Sie, was wirklich passiert – bei einem Aufprall mit großer Wucht, meine ich?«
»Ja«, antwortete ich. »Die körperlichen Auswirkungen sind für niemanden schmeichelhaft.«
»Genau. Meistens nehmen wir die Identifizierung anhand von Fragmenten vor.«
»Also waren die Angehörigen wütend auf ihn.«
»Ja. Ich glaube aber nicht, dass es die Wut der Angehörigen war, was ihn am meisten gestört hat. Es war ihm einfach ein Gräuel, ihre Qual zu sehen. Menschen, die trauerten, die ohnehin außerstande waren, das
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