Grabesstille
vielleicht weil ich mit drohendem Gestus einen spitzen hölzernen Stock und ein Messer hielt.
»Irene?«
Ich konnte ihn über das Getöse nicht hören, aber ich sah, wie seine Lippen das Wort formten. Doch das Beste war, dass ich seine graugrünen Augen sah – seine Augen, nicht die von Parrish. Ich ließ meine Waffen fallen, stand auf und streckte die Arme aus.
Er schloss mich in seine, und dann konnte ich hören, wie er meinen Namen sagte. Er sagte ihn immer wieder.
Wahrscheinlich hätte ich ihn auffordern sollen, sich nicht um mich zu kümmern, und ihm klarmachen, dass es Wichtigeres zu tun gab – aber mir waren Scharfsinn und Tapferkeit kurzfristig abhanden gekommen, und ich konnte ein Weilchen nur noch weinen und seinen Namen zu ihm sagen und Bingle versichern, dass er auch ganz wunderbar sei.
29
FREITAG, 19. MAI, SPÄTER ABEND
St. Anne’s Hospital, Las Piernas
Die Ärzte erklärten, dass sie Bens Bein vielleicht nicht retten könnten und es eventuell unterhalb des Knies amputieren müssten.
Diese Möglichkeit war Ben nicht neu. Er hatte schon im Hubschrauber davon gesprochen.
Obwohl er schwach gewesen war und offensichtlich unter Fieber und Schmerzen litt, war er in der Lage gewesen, ein Gespräch zu führen. Bingle hatte sich geweigert, von seiner Seite zu weichen, saß jetzt ruhig neben ihm und beobachtete ihn.
Stinger Dalton hatte sich erboten, Ben ins nächste Krankenhaus zu bringen. »Oder wohin Sie auch sonst wollen«, hatte er gesagt, während er neben der Trage kniete. »Dann sind Sie die Schmerzen schneller los, aber manchmal ist Nähe nicht das wichtigste Kriterium, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ja, weiß ich«, sagte Ben. Ich hielt seine heiße, trockene Hand in der meinen. Er sah erst mich und dann Dalton an. »Bringen Sie mich ins St. Anne’s«, bat er. »Ich kenne einen der orthopädischen Chirurgen dort. Wenn er amputieren muss, dann weiß er wenigstens, was er tut.«
Er sah meinen entsetzten Blick.
»Wenn sie einen Teil des Beins abnehmen müssen«, sagte er, »dann liegt das nicht daran, dass Sie irgendetwas falsch gemacht haben. Verstanden?«
»Aber –«
»Verstanden?«
Ich starrte auf den amateurhaften Verband und die provisorische Schiene. »Ich hätte Ihnen das ganze Keflex geben sollen«, sagte ich matt.
»Hören Sie mir zu. Die Kugel hat den Schaden angerichtet, nicht Sie.«
»Vielleicht müssen Sie ja doch keine –«
»Nicht«, sagte er und schloss die Augen. »Nicht.«
Nicht das, flehte ich Gott innerlich an. Nicht noch mehr. Hatte er nicht schon genug durchgemacht?
»Sollen wir irgendjemanden verständigen?«, fragte ihn Frank. »Jemanden, der im Krankenhaus auf Sie wartet?«
Ben antwortete nicht gleich.
»Einen Verwandten oder Freund?«, fragte Frank weiter.
»Nein«, sagte Ben, ohne die Augen zu öffnen. »Niemanden, danke.«
Diese Antwort auf Franks Frage machte mir wie nichts sonst Kopfzerbrechen im Hinblick auf Ben. Es war eine Sache, mit dem Verlust eines Körperteils konfrontiert zu werden, aber eine ganz andere, dies ohne die Unterstützung von Familie oder Freunden durchstehen zu müssen.
Frank hatte den Arm um mich gelegt. Ich lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Er fühlte sich solide, stark und sicher an. Ben war am Leben. Bingle war am Leben. Ich war am Leben.
Ich war am Leben und kämpfte dagegen an, etwas anderes als die Taubheit zu fühlen, die sich meiner mehr und mehr bemächtigte. Taubheit und Durst. Ich trank ständig Wasser, aber ich schien gar nicht genug davon kriegen zu können.
Nachdem der Hubschrauber abgehoben hatte, drückte Ben meine Hand. Ich begriff, dass er mir über das Dröhnen des Motors hinweg etwas sagen wollte. Er sah entsetzlich aus. Ich löste meinen Sicherheitsgurt und beugte mich näher zu ihm.
»Die Geschichte.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Der Ritter.«
Und so begann ich ihm meine unzulängliche Version der Geschichte eines mittelalterlichen deutschen Dichters zuzubrüllen, aber ich war noch nicht besonders weit gekommen, als Bens Griff schlaff wurde und sein Kopf zur Seite fiel. Mitten in meinem Geschrei erstarrte ich.
Frank kam eilig zu Ben herüber und prüfte Puls und Atmung.
»Er lebt noch«, versicherte er mir. »Sein Puls ist in Ordnung. Er hat nur das Bewusstsein verloren. Er hat mit Sicherheit schlimme Schmerzen. Dalton bringt uns im Handumdrehen nach Las Piernas zurück.«
J. C. starrte mich an, als fürchtete er den nächsten Akt in meinem bizarren Programm der
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