Grabkammer
Sie mir wirklich erzählen, dass das Ihren Glauben an die Menschheit nicht erschüttert?«
»Alles, was es mich lehrt, ist, dass es gewisse Menschen gibt, die in einer zivilisierten Gesellschaft fehl am Platz sind.«
»Und die im Grunde die Bezeichnung ,Mensch, nicht verdienen.«
»Aber es sind Menschen. Sie können sie nennen, wie Sie wollen – Schlächter, Jäger, meinetwegen auch Dämonen. Ihre DNA ist trotzdem die gleiche wie unsere.«
»Und was macht sie dann so anders? Was treibt sie zum Töten?« Er stellte sein Weinglas ab und beugte sich zu ihr vor mit einem Blick, der nicht minder verstörend war als der des Porträts über dem Kamin. »Was lässt ein Kind aus privilegierten Verhältnissen zu einem Monster wie Bradley Rose mutieren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das ist das Problem. Wir versuchen, es auf traumatische Kindheitserlebnisse zu schieben, auf Misshandlungen durch die Eltern oder auf schleichende Bleivergiftung. Und gewiss lassen sich bestimmte Erscheinungsformen kriminellen Verhaltens auf diese Weise erklären. Aber dann gibt es die Ausnahmefälle, die Mörder, die sich durch ihre besondere Grausamkeit vom Rest abheben. Niemand weiß, wo diese Kreaturen herkommen.
Und doch bringt jede Generation, jede Gesellschaft einen Bradley Rose, einen Jimmy Otto und ganze Scharen von Schlächtern ihres Schlages hervor. Sie sind immer unter uns, und wir dürfen die Augen nicht vor ihrer Existenz verschließen. Und wir müssen uns vor ihnen schützen.«
Sie sah ihn fragend an. »Wie haben Sie so viel über diesen Fall in Erfahrung bringen können?«
»Die Medien haben ausgiebig darüber berichtet.«
»Jimmy Ottos Name wurde in den Polizeiberichten nie genannt. Er ist der Öffentlichkeit nicht bekannt.«
»Die Öffentlichkeit stellt nicht die Fragen, die ich stelle.« Er griff nach der Weinflasche und schenkte ihr nach. »Meine Quellen bei den Strafverfolgungsorganen vertrauen auf meine Diskretion, und ich vertraue darauf( dass sie mich korrekt informieren. Wir haben die gleichen Anliegen und die gleichen Ziele.« Er stellte die Flasche ab und fixierte sein Gegenüber.
»Genau wie Sie und ich, Maura.«
»Da bin ich mir nicht immer so sicher.«
»Wir wollen beide, dass diese junge Frau überlebt. Wir wollen, dass die Bostoner Polizei sie findet. Das heißt, dass wir genau verstehen müssen, warum dieser Täter sie gekidnappt hat.«
»Die Polizei hat bereits einen forensischen Psychologen als Berater herangezogen. Dieser Aspekt wird also bereits abgedeckt.«
»Und man geht mit der konventionellen Methode an die Sache heran. Er hat sich früher schon so verhalten, also wird er sich wieder genauso verhalten. Aber diese Entführung ist vollkommen anders als alle bisherigen, von denen wir wissen.«
»Inwiefern anders? Er hat damit begonnen, dass er diese Frau ins Bein schoss, damit sie nicht fliehen konnte, und das ist genau sein Muster.«
»Aber er ist von diesem Muster abgewichen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sowohl Lorraine Edgerton als auch Kelsey Thacker verschwanden spurlos. Auf keine dieser Entführungen folgten provozierende Botschaften wie dieses Finde mich. Die Polizei bekam keine anonymen Briefe oder Souvenirs zugeschickt.
Diese Frauen verschwanden einfach. Der aktuelle Fall liegt anders. Mit der Entführung von Ms. Pulcillo scheint der Mörder geradezu um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen.«
»Vielleicht will er gefasst werden. Vielleicht ist es ein Appell, ihn endlich zu stoppen.«
»Oder er hat einen anderen Grund, so viel Aufmerksamkeit zu suchen. Sie müssen zugeben, dass dies genau das ist, was er tut, indem er solche medienwirksamen Ereignisse inszeniert: Er sucht die Öffentlichkeit. Indem er diese Leiche in den Kofferraum legt. Indem er im Museum einen Mord und eine Entführung begeht. Und nun der neueste Fall – er hinterlässt ein Souvenir in Ihrem Garten. Ist Ihnen aufgefallen, wie schnell die Presse bei Ihnen in der Straße aufgetaucht ist?«
»Reporter hören oft den Polizeifunk ab.«
»Die Presse hat einen Tipp bekommen, Maura. Jemand hat sie angerufen.«
Sie starrte ihn an. »Sie glauben, dass dieser Mörder so sehr nach Aufmerksamkeit giert?«
»Auf jeden Fall bekommt er sie. Nun stellt sich die Frage: Wessen Aufmerksamkeit sucht er?« Er machte eine Pause. »Ich fürchte sehr, dass es Ihre ist, auf die er aus ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Meine hat er bereits, und das weiß er. Wenn sein Verhalten vom Wunsch nach Aufmerksamkeit bestimmt ist, dann richtet er
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