Grabkammer
eine einzige kleine Wunde im Bauch zu sehen.« Jane deutete auf den mit plumpen Stichen zugenähten Einschnitt auf der linken Rumpfseite. »Wie bringt man das alles durch diese Öffnung?«
»Das ist genau die Art und Weise, wie die alten Ägypter die Innereien entfernt hätten – durch eine kleine Wunde auf der linken Seite. Wer auch immer diesen Leichnam konserviert hat, kannte sich mit den traditionellen Methoden aus. Und er hat sich offensichtlich strikt daran gehalten.«
»Was sind diese traditionellen Methoden? Wie genau macht man eine Mumie?«, fragte Jane.
Dr. Robinson sah seine Mitarbeiterin an. »Josephine versteht davon mehr als ich. Vielleicht möchte sie es erklären.«
»Dr. Pulcillo?«, sagte Jane.
Die junge Frau wirkte immer noch ganz erschüttert von der Entdeckung des Projektils. Sie räusperte sich und straffte den Rücken. »Ein großer Teil dessen, was wir darüber wissen, stammt von Herodot«, sagte sie. »Man könnte ihn wohl als einen griechischen Reiseschriftsteller bezeichnen. Vor zweieinhalbtausend Jahren durchstreifte er die antike Welt und schrieb auf, was er in Erfahrung brachte. Nur leider brachte er dabei manchmal die Einzelheiten durcheinander. Oder er ließ sich von den einheimischen Reiseführern an der Nase herumführen.« Sie brachte ein Lächeln zustande. »Das lässt ihn irgendwie menschlich erscheinen, nicht wahr? Er war auch nicht anders als die heutigen Ägyptenreisenden. Wahrscheinlich ständig umlagert von Souvenirverkäufern. Hinters Licht geführt von betrügerischen Fremdenführern. Nur ein unbedarfter Tourist unter vielen.«
»Und was hat er über die Herstellung von Mumien gesagt?«
»Man erzählte ihm, dass am Anfang die rituelle Waschung des Leichnams mit Natronlösung stehe.«
»Natron?«
»Das ist im Grunde eine Mischung von Salzen. Sie können es gewinnen, indem Sie gewöhnliches Tafelsalz mit Backpulver vermengen.«
»Backpulver?« Jane lachte unbehaglich. »Jetzt werde ich immer an Mumien denken müssen, wenn ich einen Kuchen mache.«
»Der gewaschene Leichnam wird dann auf Holzblöcke gelegt«, fuhr Pulcillo fort. »Mit einer rasiermesserscharfen Klinge aus einem äthiopischen Stein – wahrscheinlich Obsidian – wird ein kleiner Einschnitt wie dieser hier vorgenommen. Dann zieht man mit einem hakenförmigen Instrument die Eingeweide heraus. Die leere Bauchhöhle wird ausgewaschen und mit trockenem Natron ausgefüllt. Auch außen wird der Leichnam mit Natron bedeckt und dann vierzig Tage zum Austrocknen liegen gelassen. In etwa so, wie man es mit gesalzenem Fisch macht.« Sie hielt inne und starrte auf Mauras Schere, die gerade die letzten Leinenstreifen durchschnitt, mit denen das Gesicht verhüllt war.
»Und dann?«, bohrte Jane.
Pulcillo schluckte. »Nach dieser Zeit hat der Körper rund fünfundsiebzig Prozent seines Gewichts verloren. Die Bauchhöhle wird mit Leinen und Harz ausgestopft. Eventuell legt man auch die mumifizierten Organe wieder hinein. Und…« Sie brach ab, und ihre Augen weiteten sich, als die letzten Bandagen vom Kopf der Leiche abfielen.
Zum ersten Mal erblickten sie Madam X’ Gesicht. Langes schwarzes Haar bedeckte noch den Schädel. Die Gesichtshaut war straff über die hervorstehenden Wangenknochen gespannt.
Aber es waren die Lippen, die Jane entsetzt zurückprallen ließen. Sie waren mit groben Stichen zusammengenäht, als wäre hier irgendein Möchtegern-Frankenstein am Werk gewesen.
Pulcillo schüttelte den Kopf. »Das – das ist ganz falsch!«
»Wurde der Mund normalerweise nicht zugenäht?«, fragte Maura.
»Nein! Wie sollen die Toten denn im Jenseits essen? Wie sollen sie sprechen? Das ist, als ob man sie zu ewigem Hunger und ewigem Schweigen verdammte.«
Zu ewigem Schweigen. Jane betrachtete die hässlichen Stiche und fragte sich: Hast du irgendetwas gesagt, womit du deinen Mörder verletzt hast? Womit du ihn beleidigt hast? Hast du gegen ihn ausgesagt? Ist das deine Strafe, dass deine Lippen für alle Zeiten verschlossen sind?
Die Tote lag nun vollkommen entblößt da, ihr Körper kaum mehr als zusammengeschrumpfte Haut, die sich über die Knochen spannte – von allen Bandagen befreit. Maura schnitt den Rumpf auf.
Jane hatte schon oft bei diesem Y-Schnitt zugesehen, und jedes Mal hatte der Geruch, der ihr aus der geöffneten Brusthöhle entgegenschlug, sie angewidert zurückweichen lassen.
Selbst die frischesten Leichen strömten diesen Verwesungsgestank aus, wenn auch nur sehr schwach. Es war
Weitere Kostenlose Bücher