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Grabkammer

Grabkammer

Titel: Grabkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sehe da eine Eule. Ist das so was wie ein Sinnbild für Weisheit?«
    »Nein, diese Bildzeichen sind nicht als Ideogramme zu lesen«, antwortete Robinson.
    »Was ist denn ein Ideogramm?«
    »Ein Symbol, das genau für das steht, was es darstellt. Das heißt, dass zum Beispiel das Bild eines laufenden Mannes für das Wort laufen stehen würde. Oder zwei kämpfende Männer für das Wort Krieg.«
    »Aber bei diesen Zeichen ist das nicht so?«
    »Nein, diese Symbole sind Phonogramme. Sie stehen für bestimmte Laute, wie die Buchstaben unseres eigenen Alphabets.«
    »Und was steht da nun?«
    »Das ist nicht mein Spezialgebiet. Aber Josephine kann es sicher entziffern.« Er wandte sich zu seiner Kollegin um und musterte sie kritisch. »Geht es dir nicht gut?«
    Die junge Frau war so blass geworden wie die Leichen, die normalerweise hier auf dem Seziertisch lagen. Sie starrte die Kartusche an, als läse sie einen namenlosen Schrecken in diesen Symbolen.
    »Dr. Pulcillo?«, sagte Frost.
    Sie blickte jäh auf, scheinbar erschrocken, ihren Namen zu hören. »Mir fehlt nichts«, murmelte sie.
    »Was ist mit diesen Hieroglyphen?«, fragte Jane. »Können Sie sie lesen?«
    Pulcillo senkte den Blick erneut auf die Kartusche. »Die Eule – die Eule entspricht unserem M-Laut. Und die kleine Hand darunter, das würde wie ein D klingen.«
    »Und der Arm?«
    Pulcillo schluckte. »Es wird ausgesprochen wie ein A.«
    »M-D-A – Was ist denn das für ein Name?«
    Robinson sagte: »So etwas wie Medea vielleicht? Das wäre meine Vermutung.«
    »Medea?«, echote Frost. »Gibt es da nicht so eine griechische Tragödie?«
    »Eine Rachetragödie«, bestätigte Robinson. »Im Mythos verliebt sich Medea in Jason von den Argonauten, und sie bekommen zwei Söhne. Als Jason sie wegen einer anderen Frau verlässt, übt Medea Vergeltung, indem sie ihre eigenen Söhne abschlachtet und ihre Rivalin ermordet. Alles nur, um sich an Jason zu rächen.«
    »Was wird aus Medea?«, fragte Jane.
    »Es gibt verschiedene Versionen der Sage, aber in allen entkommt sie der Strafe.«
    »Nachdem sie ihre eigenen Kinder umgebracht hat?« Jane schüttelte den Kopf. »Das ist aber ein lausiges Ende, wenn sie damit davonkommt.«
    »Vielleicht ist das ja gerade die Aussage der Geschichte: dass manche Menschen, die Böses tun, nie ihre gerechte Strafe bekommen.«
    Jane sah auf die Kartusche hinunter. »Medea ist also eine Mörderin.«
    Robinson nickte. »Sie ist auch eine Überlebenskünstlerin.«
     
    Josephine Pulcillo stieg aus dem Stadtbus und ging wie in Trance die belebte Washington Street entlang, ohne auf den Verkehr oder das unablässige Wummern der Auto-Stereoanlagen zu achten. An der Ecke angelangt, überquerte sie die Straße, und nicht einmal das jähe Reifenquietschen eines Wagens, der nur wenige Schritte vor ihr zum Stehen kam, konnte sie so schockieren wie das, was sie an diesem Morgen im Sektionssaal gesehen hatte.
    Medea.
    Sicher war es nur ein Zufall. Ein verblüffender Zufall, aber was konnte es sonst sein? Höchstwahrscheinlich war die Inschrift der Kartusche nicht einmal eine genaue Übersetzung.
    Die Kairoer Andenkenhändler erzählten den Touristen die haarsträubendsten Geschichten, nur um ihnen die Dollars aus der Tasche zu ziehen. Wenn man ihnen nur genug Bargeld unter die Nase hielt, schworen sie Stein und Bein, dass Kleopatra höchstpersönlich irgendeinen wertlosen Tinnef getragen hatte.
    Vielleicht war der Graveur gebeten worden, Maddie oder Melody oder Mabel zu schreiben. Es war viel unwahrscheinlicher, dass die Hieroglyphen Medea bedeuten sollten – ein Name, den man außer im Kontext der griechischen Tragödie nur selten hörte.
    Das Schmettern einer Hupe ließ sie zusammenfahren.
    Ein schwarzer Pick-up fuhr im Schritttempo neben ihr her. Das Fenster wurde heruntergelassen, und ein junger Mann rief: »Na, Schätzchen, wie wär’s mit ‘ner Spritztour? Auf meinem Schoß ist noch reichlich Platz!«
     
    Eine knappe Geste, an der ihr Mittelfinger beteiligt war, genügte, um ihm klarzumachen, was sie von seinem Angebot hielt. Er lachte, und der Pick-up brauste davon, wobei er eine stinkende Abgaswolke zurückließ. Ihre Augen tränten noch immer von dem Qualm, als sie die Stufen hinaufstieg und ihren Apartmentblock betrat. Vor den Briefkästen in der Eingangshalle blieb sie stehen, kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel und seufzte plötzlich.
    Dann ging sie zur Tür von Apartment 1A und klopfte. Ein glubschäugiger Alien machte

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