Grabkammer
gegenüberliegenden Wand stand ein leerer gläserner Schaukasten von der Größe eines Sargs.
Als Jane über den Rand lugte, erblickte sie das Foto einer Mumie in einer Holzkiste und dazu eine Karteikarte mit dem handgeschriebenen Hinweis: Künftige Ruhestätte von Madam X. Halten Sie die Augen nach ihr offen!
Madam X würde niemals hier zu sehen sein, doch sie hatte ihren Zweck bereits erfüllt, denn schon strömten die Besucher in Scharen in das Museum. Sie hatte die Horden von Neugierigen angelockt, die auf der Suche nach dem ganz besonderen Kick waren, nach dem wohligen Gruselgefühl beim Blick ins Angesicht des Todes. Doch einer war in seiner morbiden Besessenheit noch einen Schritt weiter gegangen. Sein krankes Hirn hatte ihn dazu getrieben, eine Mumie zu machen, indem er die Leiche einer Frau ausweidete, sie in Salz einlegte und ihre Körperhöhlen mit Gewürzen ausfüllte. Indem er sie in Leinen hüllte, ihre nackten Glieder und ihren Rumpf Bahn um Bahn bedeckte, wie eine Spinne, die ihre Seidenfäden um das hilflose Opfer wickelt. Jane starrte den leeren Kasten an, und sie stellte sich unwillkürlich vor, wie es wäre, für alle Zeiten in diesem Glassarg zu liegen. Plötzlich kam ihr der Raum eng und stickig vor, es drückte ihr die Brust zusammen, als sei sie es, die von Kopf bis Fuß eingewickelt war mit Leinenbinden, die sie würgten, die sie zu ersticken drohten. Sie nestelte am obersten Knopf ihrer Bluse, um ihren Kragen zu lockern.
»Hallo, sind Sie die Herrschaften von der Polizei?« Erschrocken drehte Jane sich um und erblickte die Silhouette einer Frau in dem schmalen Durchgang. Sie trug einen eng anliegenden Hosenanzug, der ihrer schlanken Figur schmeichelte, und ihr kurzes blondes Haar schimmerte im Gegenlicht.
»Mrs. Willebrandt hat uns gesagt, dass Sie da sind. Wir haben oben auf Sie gewartet. Ich dachte, Sie hätten sich vielleicht verlaufen.«
»Dieses Museum ist wirklich interessant«, entgegnete Frost.
»Wir mussten uns einfach noch ein wenig umsehen.«
Als Jane und Frost die Grabkammer verließen, begrüßte die Frau sie mit einem festen, geschäftsmäßigen Händedruck. Im helleren Licht des großen Ausstellungsraums sah Jane eine attraktive Blondine in den Vierzigern – rund ein Jahrhundert jünger als die Führerin, die sie an der Museumskasse kennengelernt hatten. »Ich bin Debbie Duke, eine der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Museums.«
»Detective Rizzoli«, stellte Jane sich vor. »Und Detective Frost.«
»Simon wartet in seinem Büro – wenn Sie mir bitte folgen würden.« Debbie machte kehrt und stieg vor ihnen die Treppe hinauf. Die Absätze ihrer modischen Pumps klackerten auf den ausgetretenen Holzstufen. Am Treppenabsatz im ersten Stock zog ein weiteres auffälliges Exponat Janes Blicke auf sich: Ein ausgestopfter Grizzly reckte die Klauen, als wollte er jeden zerfleischen, der die Treppe heraufkam.
»Hat einer von Mr. Crispins Vorfahren dieses Vieh geschossen?«, fragte Jane.
»Ach, der«, meinte Debbie und sah sich mit leicht angewiderter Miene um. »Das ist Big Ben. Ich müsste nachsehen, aber ich glaube, Simons Vater hat das Ding aus Alaska mitgebracht. Ich bin selbst noch dabei, mich mit der Sammlung vertraut zu machen.«
»Sind Sie neu hier?«
»Ich habe im April angefangen. Wir sind immer auf der Suche nach ehrenamtlichen Helfern – falls Sie jemanden kennen, der gerne bei uns mitmachen würde. Wir brauchen vor allem jüngere Freiwillige, die mit den Kindern arbeiten.«
Jane konnte sich noch immer nicht vom Anblick dieser bedrohlich aussehenden Bärenpranken losreißen. »Ich dachte, das hier sei ein archäologisches Museum«, sagte sie. »Wie passt denn der Bär da hinein?«
»Eigentlich ist es ein Museum für alles, und das macht es so schwierig, uns zu vermarkten. Die meisten Sachen hier wurden von fünf Generationen der Familie Crispin gesammelt, aber wir haben auch eine Reihe von Stücken, die dem Museum geschenkt wurden. Im ersten Stock stellen wir einen Haufen wilde Tiere mit Reißzähnen und Klauen aus. Es ist komisch, aber irgendwie landen die Kids regelmäßig dort. Sie lieben es, Fleischfresser anzugaffen. Häschen öden sie an.«
»Häschen können einen nicht umbringen«, bemerkte Jane.
»Vielleicht liegt es daran. Wir gruseln uns eben alle gerne, nicht wahr?«
»Was ist denn im zweiten Stock?«, fragte Frost.
»Noch mehr Ausstellungsfläche. Ich zeige es Ihnen. Wir nutzen sie für Wechselausstellungen.«
»Sie schaffen also auch
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