Grabkammer
Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, wie elektrisiert von der Gewitterspannung, die in der Luft lag. Die ersten Tropfen prasselten auf sie herab, und bis sie den Hauseingang erreichte, hatte der Regen sich schon zu einem tropischen Wolkenbruch ausgewachsen. Sie rannte die Stufen hinauf und rettete sich in die Eingangshalle.
Das Wasser troff ihr von den Kleidern, als sie ihren Briefkasten aufschloss.
Sie hatte gerade einen Stapel Briefe herausgezogen, als die Tür von Apartment 1A aufging und Mr. Goodwin sagte:
»Dachte mir’s doch, dass ich Sie habe reinlaufen sehen. Ist wohl ziemlich feucht da draußen, wie?«
»Es schüttet wie aus Eimern.« Sie machte den Briefkasten zu.
»Ich bin froh, dass ich heute nicht mehr vor die Tür muss.«
»Er hat heute schon wieder einen dabeigehabt. Ich dachte mir, Sie wollen die Sache vielleicht mal klären.«
»Wer hat was dabeigehabt?«
»Der Postbote – einen Brief, der an Josephine Sommer adressiert ist. Er hat mich gefragt, was Sie zu dem letzten gesagt hätten, und ich habe ihm gesagt, dass Sie ihn angenommen haben.«
Sie sah die Post durch, die sie gerade aus dem Briefkasten genommen hatte, und fand den Umschlag. Es war dieselbe Handschrift. Und auch dieser Brief war in Boston abgestempelt.
»Das ist ziemlich verwirrend für die Post«, meinte Mr. Goodwin. »Vielleicht sollten Sie dem Absender sagen, dass er sich mal Ihren richtigen Namen notieren soll.«
»Ja. Vielen Dank.« Sie begann, die Treppe hinaufzusteigen.
»Haben Sie Ihren alten Schlüsselbund inzwischen gefunden?«, rief er ihr nach.
Statt ihm zu antworten schlüpfte sie nur rasch in ihre Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Sie warf den Rest der Post auf die Couch, riss hastig den an Josephine Sommer adressierten Umschlag auf und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Sie starrte die Worte Blue Hills Reservation an und rätselte, warum ihr jemand eine fotokopierte Wanderkarte der Umgebung schicken könnte. Dann drehte sie das Blatt um und sah, was von Hand mit Tinte auf die Rückseite geschrieben war.
Finde mich.
Darunter standen Zahlen:
421306.39 7I 0406-48
Sie sank auf die Couch, und die beiden Worte starrten sie von dem Papier in ihrem Schoß an. Draußen kam der Regen inzwischen in Sturzbächen vom Himmel. Das Donnergrollen klang näher, und dann zuckte ein Blitz im Fenster.
Finde mich.
Es lag keine Drohung in dieser Aufforderung; nichts, was sie vermuten ließ, dass der Absender ihr Böses wollte.
Sie dachte an die Nachricht, die sie vor ein paar Tagen erhalten hatte: Die Polizei ist nicht dein Freund. Auch dies keine Drohung, sondern ein vernünftiger Rat, den ihr der unbekannte Absender ins Ohr flüsterte. Die Polizei war nicht ihr Freund; das war etwas, was sie längst wusste. Etwas, was sie schon mit vierzehn Jahren gewusst hatte.
Sie konzentrierte sich auf die beiden Zahlenreihen. Schon nach wenigen Sekunden war ihr klar, wofür sie stehen mussten.
Bei dem aufziehenden Gewitter war es vielleicht keine gute Idee, ihren Computer einzuschalten, doch sie fuhr ihn trotzdem hoch. Sie ging auf die Website von Google Earth und gab die beiden Zahlenreihen als Breiten-und Längengrad ein. Wie von Zauberhand schwenkte der Bildausschnitt über eine Karte von Massachusetts und zoomte dann auf ein Waldgebiet in der Nähe von Boston.
Die Blue Hills Reservation.
Sie hatte richtig geraten: Die beiden Zahlenreihen waren Koordinaten, und sie bezeichneten eine ganz bestimmte Stelle im Park. Das war offensichtlich der Ort, den sie aufsuchen sollte – aber zu welchem Zweck? Sie sah nirgendwo eine Zeit-oder Datumsangabe für ein Treffen. Sicherlich würde kein Mensch stunden-oder gar tagelang geduldig in einem Park warten, bis sie endlich auftauchte. Nein, sie sollte dort etwas ganz Bestimmtes finden. Keinen Menschen, sondern einen Gegenstand.
Sie startete eine Internetsuche nach der Blue Hills Reservation und erfuhr, dass es sich um einen achtundzwanzig Quadratkilometer großen Park südlich von Milton handelte. Er wurde von einem zweihundert Kilometer langen Netz von Wanderwegen durchzogen, die durch Wälder und Sümpfe, Wiesen und Moore führten, und war Heimat für viele wild lebende Tierarten, darunter die Waldklapperschlange. Na, das war doch eine Attraktion, mit der man werben konnte: die Chance, einmal einer echten Klapperschlangen zu begegnen. Josephine zog eine Karte des Großraums Boston aus dem Bücherregal und breitete sie auf dem Couchtisch aus. Als
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