Grabkammer
verriegeln.
Einfach wieder nach Hause zu fahren und zu vergessen, dass sie die Karte je bekommen hatte. Doch so unwohl ihr auch bei dem Gedanken war, diesen Wald zu betreten, so sehr fürchtete sie die Konsequenzen, sollte sie die anonyme Aufforderung ignorieren. Vielleicht war die Person, die sie geschickt hatte, ja ihr bester Freund.
Oder aber ihr schlimmster Feind.
Sie blickte auf, als von den Zweigen über ihr kalte Tropfen herabfielen und sie im Gesicht kitzelten. Sie zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und ging los.
Am Rand des Waldwegs wuchsen Pilze, deren leuchtend bunte Hüte vor Nässe glänzten. Sie musste an den alten Spruch denken: Man kann alle Pilze essen – manche allerdings nur einmal.
Die Koordinaten auf dem Navigationssystem veränderten sich, passten sich immer wieder an, als sie tiefer und tiefer in den Wald eindrang. Sie konnte von dem Gerät keine hundertprozentig exakte Standortbestimmung erwarten; allenfalls konnte sie hoffen, dass es sie auf einige Dutzend Meter genau an den Gegenstand heranführen würde, den sie finden sollte. Und wenn dieser Gegenstand sehr klein war, wie sollte sie ihn dann in diesem dichten Unterholz überhaupt entdecken?
In der Ferne hörte sie leises Donnergrollen – das nächste Gewitter war im Anzug. Noch kein Grund, sich Sorgen zu machen, dachte sie. Wenn die Blitze näher kämen, würde sie sich möglichst weit vom höchsten Baum entfernt in einen Graben ducken. Das war jedenfalls die Theorie. Das Tröpfeln aus dem Laubdach wuchs zu einem stetigen Prasseln an, und dicke Tropfen klatschten auf ihre Jacke. Die Nylonkapuze fing die Geräusche ein und verstärkte das Rauschen ihres eigenen Atems, das Pochen ihres Herzens. In kleinen Schritten von Bruchteilen eines Grads rückten die GPS-Koordinaten langsam ihrem Ziel näher.
Obwohl es noch weit vor Mittag war, schien es im Wald rapide dunkel zu werden. Oder vielleicht waren es auch nur die dichter werdenden Regenwolken, die dieses stetige Prasseln in eine Sturzflut zu verwandeln drohten. Sie beschleunigte ihren Schritt, verfiel in ein flottes Marschtempo, und ihre Stiefel patschten durch Matsch und nasses Laub. Plötzlich blieb sie stehen und starrte konzentriert auf das Display des GPS-Geräts.
Sie war über das Ziel hinausgeschossen. Sie musste umkehren.
So ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war, bis sie zu einer Biegung kam – und starrte auf eine Wand aus Bäumen.
Das System sagte ihr, dass sie den Weg verlassen musste. Hinter dem dichten Gewirr aus Ästen und Zweigen schien es wieder heller zu werden, und sie glaubte ein kleines Stück einer Lichtung zu erkennen.
Sie stapfte durch das Unterholz darauf zu und kam sich vor wie ein trampelnder Elefant, als das dürre Holz laut unter ihren Tritten knackte. Nasse Zweige klatschten ihr ins Gesicht. Sie trat auf den Stamm eines umgestürzten Baums und wollte gerade auf der anderen Seite herunterspringen, als ihr Blick am Boden haften blieb – an einem großen Fußabdruck in der feuchten Erde. Der Regen hatte die Ränder schon ein wenig verwischt, aber es war eindeutig. Jemand anders war vor ihr über diesen Stamm gestiegen. Jemand anders war durch dieses Unterholz gestreift. Aber er war in die andere Richtung gegangen, auf den Waldweg zu. Der Abdruck sah nicht frisch aus. Dennoch blieb sie stehen und sah sich um. Außer herabhängenden Zweigen und mit Flechten überzogenen Baumstämmen konnte sie nichts entdecken. Welcher normale Mensch würde eine Nacht und einen Tag lang hier draußen im Wald ausharren und einer Frau auflauern, die vielleicht gar nicht kommen würde?
Einer Frau, die vielleicht nicht einmal erkennen würde, dass diese Zahlen auf der Rückseite der Karte Koordinaten waren?
Nachdem sie sich so mit ihrer eigenen Logik beruhigt hatte, sprang sie von dem Stamm herunter und ging weiter, den Blick starr auf das GPS gerichtet, auf die Zahlen, die langsam weiterrückten. Immer näher, dachte sie. Jetzt bin ich fast da.
Plötzlich lichteten sich die Bäume, und sie trat aus dem Wald hinaus auf eine Wiese. Einen Moment lang stand sie da und blinzelte verwirrt, vor sich eine weite Fläche mit hohem Gras und Wildblumen, deren Blüten schwer vor Nässe herabhingen.
Wohin jetzt? Laut dem GPS war dies die Stelle, zu der sie bestellt worden war, aber sie sah keine Schilder oder Wegweiser; nichts, was irgendwie ins Auge gefallen wäre. Nur diese Wiese, und in der Mitte einen einsamen alten Apfelbaum mit krummen, knorrigen
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