Grablichter - Almstädt, E: Grablichter
nichts über mich erzählen können. Vielleicht hat sich Frau Olsen ja stattdessen entschlossen, ein Porträt über Marion Burmeister zu schreiben. Da gibt es so viel menschlichen Touch: Von der Schützenfestkönigin zur Bürgermeisterin! Und wie die Männerwelt weinte, als Simon Burmeister sie zum Altar führte … Sie hat mich manchmal an einen jungen Shuar erinnert, den ich in meinen ersten Jahren in Ecuador kennengelernt habe. Moquimbio hieß er. Er hat auch Trophäen gesammelt, die sogenannten Tsantsa , und sie genauso stolz präsentiert wie Marion ihre Eroberungen. Nur dass sich Marion die Köpfe ihrer Verehrer nicht um den Hals gehängt hat.«
»Meinen Sie Schrumpfköpfe?«
»Ja, damit erregt man immer Aufmerksamkeit. Man kann damit wunderbar einen Vortrag aufpeppen. Wollen Sie wissen, wie sie gemacht werden?«
»Ich denke, das tut hier nichts zur Sache …«
»Kommen Sie. Machen Sie mir die Freude. Damals überfielen die Kopfjäger Angehörige eines feindlichen Stammes, vorzugsweise nachts auf deren Grund und Boden, wenn diese gerade mal austreten mussten. Sie stießen ihm ein Messer in den Rücken, warfen ihn zu Boden, schnitten, nachdem sie die Haut von Brust und Schultern abgelöst hatten, seinen Kopf ab und hängten ihn sich, einen Riemen durch Mund und Hals gezogen, über die Schulter. Während der Flucht aus dem feindlichen Gebiet legten sie kurze Stopps ein, bei denen sie die Trophäe, die Tsantsa , Schritt für Schritt präparierten. Der Kopf durfte ja keinesfalls faulen, bevor die Kopfjäger in ihr Gebiet zurückkamen. Ich werde Ihnen die Einzelheiten dieser Prozedur ersparen, aber ich habe mal etwas darüber geschrieben, falls es Sie doch interessiert. Sogar an einem Tsantsa-Festdurfte ich einmal persönlich teilnehmen. Es ist eines der wichtigsten Feste der Shuar, und es brachte dem Kopfjäger Prestige, Freundschaft und den Ruf eines guten Gastgebers ein. Die etwa faustgroße Trophäe blieb über Jahre im Haus des Kopfjägers, und wenn sie nicht vorher an Weiße verkauft wurde, wurde er sogar mit der Tsantsa begraben.«
»Und Marion Burmeister hat ihrer Meinung nach Ähnlichkeit mit einem Shuar, der Schrumpfköpfe macht?«
»Nur im übertragenen Sinne natürlich. Aber all das passiert heute sowieso nicht mehr. Die Shuar haben andere Probleme, als Köpfe zu schrumpfen, das können Sie mir glauben. Sie haben sich zu einer Föderation zusammengeschlossen, die für die Landrechte der Shuar und Achuar kämpft, und sie beschäftigen sich zunehmend mit dem Umweltschutz in der südlichen Amazonas-Region.«
»Wie ist Ihr Verhältnis zu Marion Burmeister heute?«
»Wir kennen uns schon so lange. Sie meint, auf mich aufpassen zu müssen, weil ich doch so ganz allein hier lebe. Wenn ich verreist bin, kümmert sie sich um meine Katzen.«
Pia überlegte. Gab es irgendeine Verbindung zwischen den Schrumpfköpfen und dem Mord an Lisanne Olsen? »Hat Lisanne Sie zu den Knochen befragt, die bei den Probebohrungen in Kirchhagen gefunden worden sind?«, fragte sie.
»Probebohrungen? Knochen?« Die Mühlberg dachte nach und schüttelte schließlich den Kopf. »Nein.«
»Lisanne hat einen kurzen Artikel darüber verfasst.«
»Ich erinnere mich nicht. Ich lebe sehr zurückgezogen, und ich lese keine Zeitung, sehe nicht fern, und ich höre selten Radio. Ich wollte mir mal ein Handy anschaffen, zur Sicherheit, wenn ich draußen bin und mir mal was passiert, aber ich lebe auch noch in einem Funkloch.«
»Das ist aber ungewöhnlich, so nahe an der Autobahn.«
»Das Haus muss genau zwischen zwei Sendemasten liegen. Außerdem schirmen die Bäume das Haus wohl ab.«
Pia trank den letzten Rest des Grogs. Er war immer noch sehr heiß. Sie fühlte, wie ihr der Schweiß aus den Poren trat. Henriette Mühlberg starrte aus dem Küchenfenster in die Dunkelheit hinaus. Sie sah einsam und desillusioniert aus.
»Das wär’s fürs Erste. Wenn Ihnen noch etwas zu Lisanne Olsen einfällt, können Sie mich unter dieser Nummer hier anrufen«, sagte Pia und legte ihre Karte auf den Küchentisch. »Und seien Sie vorsichtig«, ergänzte sie, obwohl sie wusste, dass alle Warnungen vergeblich sein würden. Eine Frau, die mit Kopfjägern zusammen im Regenwald gelebt hatte, würde sich von einem Mord im Dorf nicht aus der Ruhe bringen lassen.
»Ich weiß mich zu wehren«, antwortete die Mühlberg, »und ich fühle mich nicht bedroht. Von niemandem.«
Pia stand auf. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb sie das Bedürfnis hatte,
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