Grabmoosalm (German Edition)
leeren Espressotassen ab.
Fünfzehn Minuten später befand sich Ottakring wieder unten auf der
Hafnerstraße.
Mit beiden Händen in den Taschen schritt er langsam über das
Kopfsteinpflaster auf den Max-Josefs-Platz zu. In der Innentasche seines Sakkos
trug er einen Umschlag. In dem Umschlag steckten zwei Fotos von Arabella in
unterschiedlichen Posen.
Passanten grüßten ihn, doch er reagierte nicht. Zu viel ging ihm
durch den Kopf.
Nach dem Gespräch und den Antworten, die er von Olaf Döring auf
seine zahlreichen Fragen erhalten hatte, hatte er ein Gefühl für die Situation
bekommen. Das Gefühl war relativ deutlich und klar.
Die Kleine war weder entführt noch ermordet worden.
Sie war schlichtweg ausgerissen.
***
»Mama! Mama! Hilfe! Mir ham die Moserin im Wald gefunden!«
Mein Gott, der Bub kann wieder reden! Die Resi wusste nicht, von
welcher Nachricht sie mehr beeindruckt war.
Zuerst einmal umarmte sie ihren Sohn.
Der Seppe schlang die Arme so gierig um ihren Körper, als käme er
von einer einjährigen Kreuzfahrt zurück.
»Mama, Mama! Hilfe!«
Hellgrünes Blümerlkleid, dunkelbraune Haferlschuh. Gut sah sie aus,
die Resi. Richtig urig.
»Ja Seppe, mein Bub, seit wann kannst du wieder reden? Sag mal was.
Was gscheits. Damit ich seh, ob ich dran glauben kann.«
Vor lauter Liebe zu seiner Mam vergaß der Seppe die Notlage, in der
die Moserin steckte. Er stellte sich vor sie hin und stemmte die Fäuste in die
Hüfte.
»Was gscheits?«, sagte er und spitzte die Lippen. »Vielleicht Gamsbart?
Oder – Oachkatzlschwoaf?«
Seppes Mund formte das »aaa« und das »ooo« im Eichhörnchenschweif
übertrieben mimisch. Jedenfalls so, dass seine Mutter begriff, dass in dem
Seppe kein Pfeiferl mehr steckte.
»Oder Wolfshöhle? Oder A-ra-bellaaa?«
Bei dem Namen stutzte die Resi. War das nicht …? »Wie kommst du
auf Arabella?«, fragte sie hastig.
Der Seppe versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
»Aaaach nix«, sagte er übertrieben unauffällig.
»Jedenfalls – suuuper, dass du wieder reden kannst. Und du bist
gar kein Autismus mehr.«
Sie überlegte einen Augenblick lang. Sie musste den Grund herausfinden,
warum er plötzlich wieder reden konnte. Doch im Moment hatte die Moserin
Vorrang.
»Wieso ist die im Wald und nicht im Grandis? Komisch.«
Der Seppe verzog das Gesicht. Seine Augen wurden zu kleinen
Schlitzen. Er fuchtelte wild mit den Händen, während er sprach.
»Ach Mam, ist doch wurscht. Die Moserin. Der Wolf hat …« Dann
schlug er die kleinen Hände flach vors Gesicht und fing an zu weinen.
»Der Wolf, der Wolf … der hat … hat die Moserin …
Uuaaahääää.«
Er konnte die Flut seiner Tränen nicht mehr zurückhalten.
Um Gottes willen. Der Resi schwante nix Gutes.
Sie zerrte den Seppe neben sich ins Auto. Vergaß, ihm den Gurt
umzulegen. Fegte trotzdem wie eine Furie durch den Wald.
Während der Fahrt berichtete der Seppe, was er erlebt hatte.
Ungefähr erlebt hatte. Er war froh, dass er nicht geschimpft wurde, weil er
schon wieder ausgerissen war.
»Der Wolf hat sie angefallen. Ihr Knie ist zerrissen. Kaputt.
Total.«
Entsetzt schaute sie ihn an. Als sähe sie ihren Sohn zum ersten Mal.
»Wie, zerrissen?«, fragte sie.
Sie trat noch mehr aufs Gas. Die Hinterräder drehten im Sandboden
durch.
»Sie kann nicht laufen. Ihr Knie ist kaputt.«
»Du meinst wirklich den Wolf? Der Wolf hat sie angefallen?«
Der nächste Gedanke übermannte sie. Sie trat auf die Bremse und
hielt an.
»Wie kommt sie überhaupt hierher? Die sollte doch im Grandis sein.
In der Geschlossenen.«
Der Seppe zuckte mit den Achseln und wusch seine Hände in Unschuld.
»Keine Ahnung. Sie is halt da. Und mit ihrem Knie, das ist so wie beim Fußball.
A bisserl Blut und es tut weh. Sonst nix.«
Die Resi legte den ersten Gang wieder ein und widmete dem Seppe
einen langen Blick. Zuerst hatte er »total kaputt« gesagt, und jetzt diese
Verniedlichung. Konnte sie ihm glauben? Oder war alles nur Phantasie?
In erster Linie war sie froh und glücklich, dass ihr Sohn wieder
normal reden konnte. Imberdinent fand sie das. Sie musste wirklich
herausfinden, welches bedeutende Ivent das hervorgerufen hatte.
Auf der sandigen Fuhre hatten sie Rehwiesen umkurvt und steuerten
auf das Asphaltsträßchen zu, das kurvenreich aus dem Tal heraufführte.
Die Resi bekam große Augen, als sie sah, was da von rechts aus dem
Tal heraufkam.
Ein orangefarbenes, niedriges Auto.
Auf die Resi wirkte es altmodisch.
Weitere Kostenlose Bücher