Grabmoosalm (German Edition)
und spähte durch den Zaun. Nichts. Er schloss die brusthohe Gartentür auf
und trat auf die schmale Straße hinaus. Ein trüber Tag begann, untypisch für
den Chiemgau in dieser Jahreszeit. Das Wetter war unentschlossen.
Von dem Jungen sah Ottakring nur mehr die Hacken. Der Bub hatte ein
signalgrünes Sweatshirt mit einer Aufschrift am Rücken an und hinkte beim
Laufen. In der linken Hand schwenkte er etwas Langes, Blinkendes. Der Junge
verschwand nach links und tauchte in eine Nebenstraße ein.
Ottakring prägte sich das Bild ein.
Herr Huber hatte den Porsche umrundet und schnüffelte am linken
Hinterreifen. Ottakrings Autospielzeug stand auf dem reservierten Parkplatz vor
dem Zaun aus Maschendraht, der das Grundstück umgab. Er wusste gleich, dass das
widerliche Geräusch von vorhin etwas mit seinem Wagen zu tun hatte. Fast hätte
er laut aufgeschrien, als er den zentimeterbreiten Streifen im gepflegten
orangefarbenen Lack sah. Der Riesenkratzer begann kurz hinter dem linken
Frontscheinwerfer, lief unterhalb des Fensters quer durch die Seitentür und
endete kurz vor den Rückleuchten. Er sah aus wie eine tiefe Fleischwunde.
Ottakring fühlte sich, als wäre Herr Huber vor einen Lkw gelaufen. Als hätte
Lola sich einen Finger abgeschnitten.
Sollte der Junge …?
In dieser Minute konnte er unmöglich absehen, welche Dimensionen die
ekelhafte Schleifspur im orangefarbenen Lack des Porsche annehmen sollte.
Alles war ruhig in Aschbach, dem Zweitausend-Seelen-Ort nahe der
österreichischen Grenze. Sonntagsruhe. Ein grauer Tag in einer farbigen
Jahreszeit. Nur schwach war die Silhouette der Kampenwand im Südosten
erkennbar. Das platt getretene Gras am Straßenrand war stumpf und brüchig. Man
hätte nicht glauben wollen, es könne sich jemals wieder mit einem dichten
Muster von blauen und gelben Krokusblüten überziehen.
Ottakring blickte nach rechts. Er schaute hinüber zum Russenhaus.
Lola und er hatten das schräg gegenüberliegende Zweifamilienhaus so getauft,
weil dort vor Kurzem russische Bewohner eingezogen waren. Ein Mann mit einem
Jungen, vielleicht zehn Jahre alt, und ein offenbar alleinstehender Mann. Keine
Frauen. Die beiden Wohnungen lagen übereinander.
Mit dem Single hatte er sich angelegt. Ein Landrover hatte, als er
am Freitag vom Dienst nach Hause kam, auf seinem Parkplatz vor dem Haus
geparkt. » RUS« stand auf dem Aufkleber neben der
Rosenheimer Nummer am Heck. Wütend hatte Ottakring den Porsche anderswo geparkt.
Am Samstag hatte er den Besitzer zur Rede gestellt. »Würden Sie sich
bitte zukünftig einen anderen Parkplatz suchen?« Bestimmt, aber freundlich
hatte er das gesagt. Bloß nicht fremdenfeindlich erscheinen.
Der andere verschränkte die Arme vor der Brust. Eine stiernackige
Gestalt in einem Trainingsanzug aus blauem Nylon, silbergrauen Sneakers und
einem ovalen, bartlosen Gesicht. Kalt und feindselig, so hatte Ottakring ihn
nachher beschrieben, als er Lola den Vorfall schilderte. Kalt, feindselig und
brutal. Geruch von altem Schweiß. Eine schroffe, scharfe Stimme.
»Du wirst bald den Abgang machen«, sagte der Russe mit hartem
Zungenschlag und machte ungeniert die Bewegung des Kehledurchschneidens. »Wenn
du so weitermachst.« Das war gestern gewesen.
Nun stand Ottakring vor seinem geschundenen Porsche und schaute
hinüber zum Russenhaus. Er war Polizist genug, um zu wissen, dass er im Moment
nichts unternehmen konnte. Dem Jungen hinterherrennen? Nein, bestimmt nicht.
Herr Huber rieb die Schnauze an seiner Kniekehle.
»Was ist, Schatz?« Lola hatte das Küchenfenster geöffnet. Sie setzte
Kaffee auf. »Fehlt dir was?«
Immer noch musste sich Ottakring an den Anblick gewöhnen. Seine
schöne Lola wieder mit der Klappe überm Auge. Ihre Augeninfektion hatte als
geheilt gegolten. Dann war sie aufs Neue ausgebrochen und hatte sie arg
mitgenommen. Doch Lola wäre nicht Lola, wäre sie nicht felsenfest überzeugt
davon, dass sich die Krankheit endgültig verziehen würde.
Ottakring wischte die kleinen Tropfen ab, die sich über seiner Lippe
gebildet hatten. »Ja«, sagte er. »Beweise. Beweise fehlen mir.«
In der Nacht von Sonntag auf Montag, den 21. September,
wurden sie gegen zwei Uhr von Musik geweckt. Mehr noch, sie schreckten hoch,
als bebte die Erde. Die Wolken hatten sich an den Horizont verzogen, und der
Mond stand hell und hoch am Himmel. Wie ein Unwetter toste der Lärm
Weitere Kostenlose Bücher