Grace - Die Biographie
sich, zunächst zumindest, hinter stets heruntergezogener Jalousie liebt.
»Auf der anderen Seite des Hofes haben Sie alle Arten menschlichen Verhaltens, einen kleinen Verhaltenskatalog. (…) Was man auf der anderen Hofmauer sieht, ist eine Fülle kleiner Geschichten, es ist der Spiegel einer kleinen Welt«, 166 so Hitchcock in dem von François Truffaut im August 1962 geführten legendären Fünfzig-Stunden-Interview, das 1966 schließlich in seiner ersten Fassung als Buch erscheint.
Diese andere Seite des Hofes stellt auch und gerade für Jeffries einen Spiegel dar: Jene Nachbarn sind der Katalog an Möglichkeiten für sein eigenes Leben – mit oder ohne Lisa. Die Spiegelung betrifft hier auch die Personen selbst – es ist das dualistische Prinzip, das Hitchcock zuvor etwa in Im Schatten des Zweifels in der Symmetrie der beiden Charlies, Onkel und Nichte, thematisiert oder in Der Fremde im Zug mit Bruno und Guy, und hier erneut variiert anwendet: L. B. Jeffries, der nur »Jeff« gerufen wird, ist mit einer Frau zusammen, die ihn unbedingt heiraten will. Als Lisa in Thorwalds Wohnung einsteigt und den Ehering der Frauin der Handtasche findet, streift sie ihn sich über und zeigt hinter ihrem Rücken darauf, während Jeffries dies auf der anderen Seite beobachtet – ein doppelter Wink ihrerseits: Die Ehefrau scheint wirklich umgebracht worden zu sein, und sie, Lisa, will ihn, Jeffries, heiraten. Jeffries ist der (vermeintlich) positive Protagonist. Der (Anti)-Held. Lars Thorwald ist mit einer Frau zusammen – aus der Ferne wirkt auch sie blond, schlank und jung, also ganz so wie Lisa –, die nur mehr an ihm herumnörgelt und die er loswerden will. Er ist der negative Antagonist. Während es hier Jeff ist, der sonst in der Welt umherreisende Fotoreporter, der mit seinem Gipsbein an Rollstuhl und Bettsofa gefesselt ist, und von Lisa insistierend umsorgt wird, ist die Situation drüben genau gespiegelt: Thorwalds Frau ist krank und liegt im Bett, während er, der Handlungsreisende, unterwegs und beweglich ist, sich jedoch um seine Frau kümmern muss. Thorwald ist letztlich das veräußerlichte Alter Ego von Jeffries’. Jeffries‹ Beobachtung des Thorwald’schen Ehelebens und schließlich des Mordes, sie mag letztendlich nichts als eine Projektion seiner Urängste sein.
Wenn man denn so will, existiert diese Hausfront gegenüber nur in Jeffries Vorstellung. Alles – der Hinterhof und die gegenüberliegenden Wohnwaben – ist mentale Externalisierung. Es repräsentiert eine imaginierte Projektion, ist die Veräußerlichung von Sehnsüchten und Wünschen einerseits, von Ängsten und Abgründen andererseits. Thorwald vollzieht, was Jeffries sich nicht traut. Seine äußere Immobilität reflektiert denn auch seine innere, als er Lisa fragt, ob man denn nicht alles so belassen könne, wie es ist. Die Thorwalds und Miss Lonelyhearts dieser Hinterhofwelt, die einsamen Pianisten und frisch vermählten Ehepaare – sie alle bedeuten Jeffries’ mögliche Lebensoptionen.
Das erste Mal ist Grace Kelly in Das Fenster zum Hof als Schatten zu sehen – es ist die fünfzehnte Minute des Films und am anbrechenden Abend. James Stewart sitzt mit ausgestrecktem Gipsbein im Rollstuhl und ist eingenickt. Von der Straße und aus dem Hof sind Geräusche und Stimmen zu hören, ein Klavier spielt, eine Frau macht Gesangsübungen, Kindergeschrei kommt von der Passage, die von der Straße zum Hof führt. Während sich plötzlich, wie aus dem Nichts, lautlos und ganz langsam, GracesSchatten über ihn legt, und Stewart, als spüre er ihr Sichannähern, die Augen öffnet und, noch wie benommen, sich ein Lächeln auf seine Lippen legt. Es sind Bilder wie aus einem Traum. Dabei zieht Hitchcock den Ton runter – etwas, was er später in seinem Alterswerk Frenzy erneut verwenden und vollends avantgardistisch auf die Spitze treiben wird – und es ist, bis auf ein sehr leises diffuses Großstadtsummen, urplötzlich nahezu nichts mehr aus dem Hof zu hören, als habe sich ein Wattebausch um das Liebespaar gelegt, so dass einen Moment lang nichts Akustisches mehr zu stören vermag. Dadurch entwickelt diese Bildabfolge einen umso größeren Sog. Hitchcock zeigt das in einer äußerst farbintensiven (und farbrestaurierten) Slow-Motion-Sequenz. Grace Kelly und James Stewart sind mit ihren Gesichtern jeweils einzeln von der Kamera im Close-up fotografiert. Grace ist dabei erst aus der Perspektive James Stewarts zu sehen, frontal, sich – zu ihm
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