Graciana - Das Rätsel der Perle
Wahl wie Ihr!«, erwiderte er gelassen. »Wenn Ihr entkommen wollt, müsst Ihr wohl oder übel das Risiko eingehen und Euch auf mich verlassen. Seht zu, dass Ihr in den nächsten Tagen ordentlich esst, damit Ihr den Ritt nach Rennes durchsteht. Ich kann niemandem vertrauen, dass er Euch begleitet, Ihr müsst also selbst auf Euch aufpassen, auch wenn es gefährlich ist.«
Graciana stutzte. »Nach Rennes? Was in aller Welt soll ich in Rennes?«
»Ihr müsst Eure Sache Herzog Jean vortragen! Er ist der einzige, der Euch helfen kann«, erklärte der Söldner zu Gracianas größter Verblüffung. »Berichtet ihm, was Ihr Cocherel gesagt habt. Ihr seid die letzte vom Blute der Cessons. Ihr habt ein Anrecht auf seinen Schutz und seine Hilfe, und er wird Euch beides nicht verweigern!«
»Ihr schickt mich zu Jean de Montfort?«, versicherte sich Graciana. Hatte sie wirklich richtig verstanden? »Weshalb sollte er mich empfangen?«
»Nennt ihm den Namen Eurer Mutter, und er wird es zweifelsfrei tun«, behauptete der Schwarze Landry und lauschte zur Tür, als ob er sich vergewissern wollte, dass auch auf dem Gang niemand zuhörte.
»Aber weshalb?«, wiederholte die junge Frau hartnäckig. Sie wurde nicht klug aus diesem Mann, der ihr gegen den Willen seines Anführers half.
»Stellt keine überflüssigen Fragen und kümmert Euch ausschließlich um Eure eigenen Angelegenheiten«, riet er ihr eindringlich. »Ich hoffe, Ihr wisst nicht nur dann hartnäckig zu schweigen, wenn es darum geht, einen Mann bis zur Weißglut zu ärgern!«
Er ließ Graciana mit einem Haufen von Fragen zurück, auf die sie keine Antwort fand. Welch aufregender, seltsamer Tag nach all den ereignislosen Stunden in dieser kargen Kammer. Was sollte sie tun? Dem Schwarzen Landry das Vertrauen entgegenbringen, das er forderte? Wer sagte ihr, dass er sich nicht einen grässlichen Scherz mit ihr erlaubte?
»Wir werden es riskieren«, teilte sie dem Kind mit, das in ihr wuchs. »Wir haben wenig zu verlieren, aber alles zu gewinnen!«
17. Kapitel
Dichte Regenwolken hingen so tief auf die Türme von Rennes herab, dass sie die feucht glänzenden Schieferdächer zu berühren schienen. Graciana studierte verblüfft die verschwommenen Umrisse der riesigen Stadt, ehe sie den Kopf wieder senkte, damit ihr Gesicht im Schatten der Kapuze verschwand. Sie folgte dem Zug der Lasttiere, Karren und Wagen durch das westliche Stadttor der neuen Residenz des Herzogs. Niemand schenkte der schmalen Gestalt im durchnässten Umhang sonderliche Aufmerksamkeit. Sie wirkte so jämmerlich erfroren und armselig, dass es den Wachen nicht die Mühe wert schien, sie zu kontrollieren.
Innerlich jedoch jubelte Graciana. Sie hatte es geschafft! Sie war Paskal Cocherel und seinem Raubvogel-Horst in Cado entkommen. Die stürmische Nacht, in der das Grölen der Betrunkenen in der Halle durch die ganze Burg gedröhnt hatte, war anfangs nur eine von vielen ähnlichen gewesen. Sie hatte den Lärm durch die Fensterschlitze vernommen und deswegen völlig überhört, dass sich fast lautlos ihre Tür öffnete.
Das weiche Bündel der Kleider, das in ihren Schoß fiel, ließ sie mit einem erschreckten Laut vom Strohsack hochfahren.
»Ich bin’s«, hatte sie im Dunkeln die leise Stimme des Schwarzen Landrys vernommen. »Das sind die Gewänder eines Bauernburschen. Zieht sie an, aber beeilt Euch! Wir haben nicht viel Zeit.«
Es war leichter befohlen als getan, denn Graciana hatte keine Ahnung von den Schnüren und Schlaufen der Männerkleidung, aber irgendwie gelang es ihr, dass die Beinlinge an Ort und Stelle blieben und dass das kratzige Wams von einem Gürtel gehalten wurde. Die Stiefel waren ein gutes Stück zu groß, und so stopfte sie kurzentschlossen Stroh hinein, damit sie einigermaßen Halt fand. Den weiten Umhang nahm sie über den Arm, denn sie wollte nicht über seinen Saum stolpern.
Auf welchen Wegen sie die Burg verlassen und den versteckten Platz erreicht hatten, wo das Maultier geduldig auf sie wartete, vermochte sie nicht zu sagen. Sie erinnerte sich an feuchte Wände, niedrige Gänge und eine unheilvoll knarzende Mauerpforte. Dann indes half ihr eine kräftige Hand in das Gestell des hölzernen Sattels und zurrte einen Sack mit Vorräten fest. In all der Zeit ließ Landry sie mindestens fünfmal die wichtigsten Merkmale des Weges wiederholen, den sie einschlagen musste, um zur großen Straße nach Rennes zu kommen. Hätte er sie mit dem Holzhammer in ihren Schädel verankern
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