Graciana - Das Rätsel der Perle
Croix‹ hinzufüge!«
Graciana hatte sich nicht viel von diesen beiden Zauberworten erwartet, aber die Wirkung war geradezu erstaunlich. Der Wachsoldat erstarrte förmlich. Ein Ruck ging durch seine ganze Gestalt, und er packte ohne weiteres Wort das Maultier am Zügel und führte es durch den Mauerbogen vor den Eingang zum rechten Torturm.
»Wenn Ihr bitte einen Moment warten würdet!«, sagte er mit völlig neuem Respekt in der Stimme und verschwand durch die Pforte.
Ehe Graciana sich fragen konnte, was er damit meinte, erschien er mit dem Hauptmann, der offensichtlich die Torwache befehligte. Über dessen blank poliertem Harnisch schimmerte ein Umhang in den Farben des Herzogs, und seine Waffen wirkten ebenso beeindruckend wie gefährlich. Er senkte den Kopf in einem knappen Gruß.
»Wenn Ihr mir bitte folgen wollt«, bat er Graciana so höflich, dass sie befangen aus dem Sattel rutschte und dem herbeigeeilten Stallknecht das Maultier überließ.
»Wohin ...« Ihre Stimme versagte, und sie musste sich erst räuspern, damit sie den ganzen Satz über die Lippen brachte. »Wohin bringt Ihr mich?«
»Unverzüglich zum Herzog, wie Ihr es gewünscht habt!«, erklärte der Hauptmann. »Wir haben Befehl, einen jeden, der das Kennwort sagt, sofort zum Herzog zu bringen. Egal zu welcher Tageszeit.«
Graciana schluckte. Offensichtlich hatte sie eine Zauberformel ausgesprochen, die ihr alle Türen öffnete. Wie war das möglich? Wieso wusste der Schwarze Landry davon? Sollten Paskal Cocherel und der Herzog in Wirklichkeit doch engere Verbündete sein, als alle Welt es annahm? Geriet sie vom Regen in die Traufe?
»Wenn Ihr mir bitte folgt«, mahnte ihr Begleiter von neuem, als sie unwillkürlich stehen blieb. »Seine Gnaden befindet sich um diese Zeit in der großen Halle, wo er Gericht spricht und seine Untertanen empfängt.«
Graciana schüttelte ihre Befangenheit ab und beeilte sich, ihm zu folgen. Schon nach kurzem gab sie es allerdings auf, sich die Anzahl der Innenhöfe, Tore, Treppen und Gänge zu merken, die sie auf ihrem Wege passierten. Je näher sie den herzoglichen Gemächern kamen, um so prächtiger wurden die Steinmetzarbeiten, die Fackelhalter und die Steinquadrate der Böden. Jetzt schritten sie über schwarz-weiße Marmorquadrate, die den Gang in ein lang gezogenes Schachbrett verwandelten. An den Wänden hingen dicht an dicht Standarten, Fahnen und farbenprächtige Teppiche über dem Mauerwerk.
In diesem Moment blieb ihr Begleiter auch schon vor einer kostbar geschnitzten, doppelflügeligen Holztür stehen, die von zwei Garden mit hoch aufgerichteten Hellebarden bewacht wurde. Ehe er jedoch die Hand heben konnte, um sich bemerkbar zu machen, öffneten sich die Türflügel von innen, weil ein prächtig gekleideter Edelmann eilig davonstürmen wollte. Für einen Herzschlag lang blieben sie alle verblüfft voreinander stehen.
Kérven des Iles reagierte am schnellsten. Vielleicht, weil er sich in endlosen Stunden ausgemalt hatte, wie er handeln würde, wenn genau diese Situation eintraf. Gracianas Augen, ihr Gesicht, ihre Erscheinung hatten sich so tief in seine Seele eingegraben, dass er sie in jeder noch so unglaublichen Verkleidung erkannt hätte. Ihre weit aufgerissenen goldenen Augen konnte sie nicht maskieren!
»Du!«, murmelte er fassungslos, und sein Arm schoss zu einem nur zu vertrauten Klammergriff nach vorne. »Bei allen Heiligen, wie ist das möglich! Wie bist du in die Burg gekommen?«
»Ich habe dringenden Befehl, diesen Jungen unverzüglich zu seiner Gnaden zu bringen«, mischte sich nun der Hauptmann ein. »Wenn Ihr uns bitte durchlassen wollt, Messire?«
»Das übernehme ich«, erklärte der Seigneur des Iles geistesgegenwärtig. »Ihr könnt wieder auf Euren Posten zurückkehren, Hauptmann! Ihr habt Eure Pflicht getan, seid bedankt dafür!«
Seine Autorität erstickte jeden möglichen Widerspruch im Keim. Jeder Ritter kannte Kérven des Iles und wusste, dass er zu den engsten Vertrauten Jean de Montforts gehörte. Der Hauptmann verneigte sich und marschierte waffenklirrend davon. Graciana schaute ihm verblüfft nach. Besaß Kérven in diesem Palast die Macht, etwas zu befehlen?
Ehe sie auch nur einen Ton sagen konnte, wurde sie an den Wachen vorbei den Gang hinuntergeschleppt. Wieder davon, und nicht in das Gemach des Herzogs!
Noch ganz unter dem Schock dieses unverhofften Wiedersehens begann sie sich viel zu spät gegen diese Einmischung zu wehren.
»Lasst mich los! Ihr habt
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