Graciana - Das Rätsel der Perle
können, hätte er es zweifellos auch noch versucht.
»Warum tust du das für mich?«, hatte sie ihn schließlich gefragt, doch er stillte ihre Neugier nicht.
»Beherzigt meinen Rat«, erwiderte er nur. »Kümmert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten und tragt sie dem Herzog vor. Sollten Euch die Wachen am Tor aufhalten, so nennt ihnen die Worte Sainte Croix! Merkt es Euch gut, Sainte Croix!«
»Heiliges Kreuz?«, murmelte Graciana. »Schon wieder das Kreuz von Ys?«
Er ignorierte auch diese Frage. »Behaltet diese Worte, dann kann Euch nichts geschehen.«
»Gott mit Euch, Feuerkopf!«
»Lebt wohl, Landry ...«
Ein Schlag auf die Kruppe des Maultieres, und es setzte sich trottend in Bewegung.
»Schaut nicht zurück! Eine Graciana de Cesson schaut nur nach vorne!«
Es war das erste Mal, dass sie jemand mit diesem Namen bezeichnete. Einen Namen, der ihr eine Familie und eine ehrbare Herkunft gab. Auf rätselhafte Weise verlieh ihr dieser Name die Kraft, die sie so dringend benötigte. Sie richtete den Blick nach vorne.
Der Zufall kam ihr obendrein zu Hilfe, als sie bereits am folgenden Morgen hinter St. Lery auf den Zug eines Handelsmannes stieß, der aus dem Hafen von Lorient kam und Waren für Rennes auf seinen Lasttieren transportierte. Er hatte nichts dagegen, dass der schweigsame Junge mit dem klapprigen Maultier unter seiner Obhut reiste.
Je mehr Knechte seine Kolonne begleiteten, um so abschreckender wirkte das auf die Räuberbanden, die jeden Kaufmann bedrohten, auch wenn dieses Bürschchen nicht so aussah, als wisse es besonders viel mit dem Dolch anzufangen, der in seinem Gürtel steckte. Das schmale Gesicht unter der eng anliegenden Kappe war das eines tapferen Kindes. Aber immerhin, die Person zählte, und der Handelszug erreichte sein Ziel, ohne sich mit Waffengewalt verteidigen zu müssen.
Im Gewühl hinter dem Stadttor trieb Graciana ihr störrisches Maultier ein wenig zur Seite. Es folgte eher verdrießlich, denn es hatte längst gemerkt, dass sein Reiter seinen Launen völlig ausgeliefert war. Doch auch das eigenwillige Tier sehnte sich nach einem Stall, und so klapperten die dünnen Beine über das Pflaster auf die Burg zu, die Rennes mit ihren Mauern und Türmen überragte. Die steifen, kostbar bestickten Standarten verrieten der Reiterin schon von weitem, dass Jean de Montfort in seiner Residenz anzutreffen war.
Graciana zog die Schultern unter ihrem nassen Umhang unbehaglich hoch. Sie hatte Angst vor dem Herzog. Bisher hatte sie keine guten Erfahrungen mit den Mächtigen gemacht. Doch welche Wahl hatte sie, wenn sie nicht im Arbeitshaus dieser ehrbaren Stadt landen wollte, wo man die Landstreicherinnen und Huren mit höchst drastischen Methoden zu Buße und einem christlichen Leben anhielt? Sie musste auch an ihr Kind denken! Der Schwarze Landry hatte bisher recht behalten, also wollte sie ihm auch weiter vertrauen. Was blieb ihr schon anderes übrig?
Die Hellebarden der herzoglichen Wache senkten sich vor der empörten Nase des Maultieres. Es protestierte trompetend gegen das lästige Hindernis, und Graciana erschrak so darüber, dass sie fast aus dem Sattel gefallen wäre.
»Du kannst hier nicht einfach in die Burg reiten, Bürschchen!«, schnauzte der Soldat sie barsch an. »Das ist keine Herberge für deinesgleichen! Pack dich fort, dieses blökende Gerippe auf vier Beinen beleidigt ja das Auge eines jeden Menschen!«
Doch Graciana dachte nicht daran, sich von diesem einfachen Soldaten einschüchtern zu lassen. Sie schob das Kinn vor und bedachte den Wachmann mit einem ausgesprochen hochnäsigen Blick.
»Lasst mich durch, guter Mann! Ich muss den Herzog sprechen!«
Brüllendes Gelächter lockte die anderen Wachleute herbei, die sich von Graciana und ihrem Widersacher ein wenig Abwechslung versprachen.
»Genau auf dich hat er gewartet, Kerlchen!«, keuchte der Mann, nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. »Möchtest du ihm diese Mähre verkaufen, auf der du sitzt, oder willst du politische Diskussionen mit ihm führen? Mir scheint, der Regen hat den Verstand unter deiner Kappe ganz schön eingeweicht!«
Gracianas Augen verengten sich zu schmalen, wütenden Schlitzen. Sie war müde, nass, erschöpft, und wenn sie nicht bald aus dem Sattel kam, würde sie vermutlich von selbst herunterfallen. Sie hatte nicht die Geduld für solche Spielchen.
»Ich will zum Herzog, Mann!«, erklärte sie scharf. »Und vielleicht bringt es dich ein wenig auf Trab, wenn ich ›Sainte
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