Graciana - Das Rätsel der Perle
Fingern begann es zu kribbeln und zu jucken. Etwas in ihr erwachte jäh zum Leben. So unerwartet und mächtig, dass es ihr im ersten Moment den Atem raubte. Es kam ihr vor, als erwache sie aus einem langen, erschöpfenden Schlaf und müsse sich erst mühsam wieder in der Gegenwart zurecht finden.
»Bleib liegen, bis sich dein Magen beruhigt hat, und dann iss ein wenig von dem Brot«, riet die Frau. »Ich werde sehen, ob ich einen Becher Ziegenmilch und ein paar Mandelkuchen für dich auftreiben kann. Das ist besser als diese Fleischpastete.«
Sie eilte hinaus, aber Graciana bemerkte es kaum. Sie war völlig benommen. Es kam ihr vor, als wäre der Tag mit einem Schlag heller geworden. Sie richtete sich auf und ignorierte den protestierenden Krampf in ihrem Magen. Vorsichtig legte sie eine Hand über ihren Bauch, dort, wo sie mit einem Streifen Stoff, den sie aus ihrem Unterkleid gerissen hatte, das zerstörte Gewand zusammenhielt.
Sie versuchte, in sich hineinzuhorchen. Irgendwo dort tief in ihr wuchs neues Leben. Ein Leben, das Kérven des Iles gezeugt hatte! Die Freude, die sie überflutete, war so ungeheuer, dass sie unter dem Ansturm erbebte.
»Ich danke dir!«, seufzte sie aus überquellendem Herzen und richtete dieses Stoßgebet an jene göttliche Macht, deren Existenz und Gerechtigkeit sie noch vor kurzem so heftig bezweifelt hatte. »Du hast mir einen neuen Grund zum Leben geschenkt!«
Sie strich sich die Haare aus der Stirn und bemerkte zum ersten Male, wie schmutzig, strähnig und zerzaust sie waren. Ihre Hände starrten vor Dreck, und ihre bloßen Füße in den Resten der zerfetzten Strümpfe wirkten um keinen Deut besser. Sie sah aus wie eine Schlampe, die sich im Dreck gewälzt hatte, und sie verspürte auf einmal einen Hunger, der ihr förmlich in den Eingeweiden biss.
Sie stand auf und griff nach dem Brot auf dem Tablett. Sie roch an dem Weinkrug und ließ ihn erschauernd stehen. Sie zwang sich, sorgsam Bissen für Bissen des zähen Brotes zu kauen und zu schlucken, jeden Moment darauf wartend, dass ihr Magen dagegen protestierte. Er tat es nicht, und Graciana riss sich ein Stück der Fleischpastete ab, in das sie mit zunehmendem Genuss ihre weißen Zähne grub. Währenddessen arbeiteten ihre Gedanken fieberhaft. Es ging nun nicht mehr um sie, es ging um ihr Kind.
Von frühester Kindheit an hatte sie gewusst, dass ihr ein Leben als Nonne bevorstand. Ein Leben im Dienst Gottes, in dem es keine Kinder gab, keine Mutterliebe und kein Lachen. Aber bis zu diesem Moment war ihr nie bewusst geworden, wie grenzenlos sie unter dem Verzicht auf all diese Dinge gelitten hatte.
Sie erwartete ein Kind! Ein Kind, das in liebevoller Wärme, in Frieden und ohne jeden Kummer aufwachsen sollte. Aber garantiert nicht in einem Räubernest wie der Festung von Cado! Womit ihre Gedanken wieder bei ihrem Vater waren, bei Paskal Cocherel.
Sie kannte ihn kaum, aber sie war sich dennoch ziemlich sicher, dass er sie nicht gehen lassen würde. Auf seltsame Weise begriff sie, dass es ihm ernst war mit seinem Traum, dieses Land am Meer zu beherrschen. Ebenso wie sie ahnte, dass es ihm schmeichelte, in seinem wüsten Leben ein Kind gezeugt zu haben, dass es an Mut und Stolz mit ihm aufnehmen konnte. Er betrachtete sie als sein Eigentum, das er nicht freiwillig herausgeben würde. Sie war von seinem Blut, und das hatte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für ihn.
»Aber du wirst nicht hier geboren werden«, versprach Graciana ihrem Kind. »Ich werde nicht zulassen, dass dieser Mann dein Leben bestimmt und dass du mit dem Fluch seiner bösen Taten aufwachsen musst!«
Plötzlich gab es da eine winzige Seele, mit der sie sprechen konnte, der sie all das anvertrauen konnte, was sie fühlte, und die sie uneingeschränkt lieben durfte. Lieben mit all der Kraft und dem Feuer, das sie in sich spürte. Ein Leben, das nur ihr gehörte. Ein Lächeln nistete sich in ihren Mundwinkeln ein und vertrieb die Anspannung und das Leid auf ihren Zügen. Niemand war je dermaßen eng und ausschließlich mit ihr verbunden gewesen.
Mutter Elissa hatte sich der Verwandtschaft mit ihrer Großnichte verweigert. Für die anderen Nonnen und Novizinnen war sie nicht mehr gewesen als eine Mitschwester. Für Kérven vielleicht eine kurze Zerstreuung, die er schon längst vergessen hatte. Die Aufzählung all derer, denen sie nicht wichtig genug gewesen war, schmerzte, besonders der Gedanke an Kérven.
Würde das Kind, das in ihr wuchs, ihm ähnlich
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