Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
vor mir zum Stehen, daß der Schnee aufstieb und mein Gesicht bestäubte. Ich war nämlich niedergekniet vor Angst.
»Ich bin Rüesch-Savoign«, sagte sie freundlich und mit wohlklingender Stimme, während die andere kicherte, »die Tochter der Alva!«
»Die jüngste?« fuhr es mir heraus.
»Die einzige!« lachte sie erstaunt. »Und dies ist meine Base Madulain.«
»Ich will Euch, schöne junge Herrin«, sagte ich, immer noc h a uf den Knien vor ihr, »folgen wie eine Eurer Zi e gen, wenn Ihr mich nur rausführt aus diesem finstren Tann.«
Ich stand auf und klopfte mir den Schnee ab, doch die beiden Mädchen lachten nur über mich.
»So behende vermögt Ihr nicht zu springen«, scherzte Madu-lain, »nicht einmal, wenn wir Euch den Stock sp ü ren ließen!« Und sie scheuchte die Herde zusammen, die we i ter in gewohnter Richtung zum heimatlichen Stall drängte.
Rüesch, die Tochter, sie mochte höchstens fünfzehn Le n ze zählen, hatte ein Herz mit mir. »Wenn ich Euch meine Schneeschuhe gäbe …« Doch ein stummes Kop f schütteln ihrer Cousine ließ sie den Gedanken gleich wi e der aufgeben. »Folgt nur unserer Spur, den Kötteln im Schnee, wenn die Dunkelheit fällt, dann findet Ihr den Weg nach Hause«, und sie sauste auf ihren Gleitern den Tieren nach, die schon zw i schen den Bäumen verschwunden wa r en.
Dank der niedergetretenen Firndecke kam auch ich jetzt schneller vorwärts, und bald sah ich im Abendlicht den aufsteigenden Rauch über den Dächern der Häuser oben am Hang. Ich stürmte durch den Holzgang der Punt, die Wachen machten keine Anstalten, mich aufzuhalten, und keuchend begann ich den Anstieg der engen Gassen.
Es war die Stunde des Vesperläutens, woran ich durch das dreimalige Tuten eines Horns gemahnt wurde, und alle Männer des Ortes, meist Handwerker und Händler, hatten kleine Teppiche in den Schnee gebreitet, auf denen sie schweigend ihr Gebet verrichteten, während oben vom Wachturm das dumpfe Dröhnen des Kuhhornes ve r klang. Ihre gebeugten Köpfe wiesen in Richtung des Passes, hi n ter dem weit in südöstlicher Ferne irgendwo Mekka liegen mußte.
Ich stieg behutsam an ihnen vorbei, sah in die offenen glühenden Essen der Schmiede, roch das harzige Holz in den Werkstätten der Schlittenmacher, den strengen G e ruch des Leders i n d en Läden der Schneeschuhflechter. Ich traf auf Jäger, an deren Spießen das erjagte Hochwild ausblut e te und von Pfeilen durchbohrte fette Murmeltiere. Nur Frauen sah ich nicht, auch nicht die beiden Mä d chen. Dafür saß Xaver wieder auf der Bank vor seinem Haus und be o bachtete ein Zicklein, das über einem Feuer sich langsam drehte, weil er gemächlich an einer Lede r schnur zog, die über ein Rad lief.
»Ich würde gern noch in der Kirche beten«, fragte ich bescheiden an und wies mit dem Kopf in ihre Richtung.
»Heute nicht!« beschied er mich. »Morgen wieder!«, und er grinste. Als er mein Unverständnis bemerkte, fügte er beschwichtigend hinzu: »Die Meß ist jetzt vorüber, die Weiber kommen schon zurück«, und ich sah den Zug der Frauen, alle mit Kopftüchern, die Gesichter verborgen, der sich am Hang auflöste und ins Dorf verteilte.
Kurz darauf traf Frau Alva ein und servierte uns wortlos das Zicklein.
»Zur Feier des Tages«, sagte Xaver und legte mir ein gutes Lendenstück vor. »Fette Beute! Hat der Papst uns doch heute wieder siebzig Quintaler Silber und dreihu n dert Goldbezanten geschickt, samt einem Esel.« Er schnitt sich eine Keule. »Der Minorit deklarierte den Schatz als ›Alm o sen‹«, schmatzte Xaver gutgelaunt. »Als wenn wir nicht wüßten, daß der heilige Franz seinen Brüdern Annahme und Besitz von jeglicher Münz ’ strikt verboten hat.«
Frau Alva erschien unterwürfig mit einer leeren Schü s sel, in die ihr Mann etwas, nicht gerade die besten Stücke, von dem Zicklein tat, worauf sie wieder ins Haus zurüc k huschte. »Und dann wollte er besonders klug sein und stieg – unter Umgehung der Diavolezza – über die Seen ins Tal hinauf und lief prompt den Teufeln von der guarda lej in die Arme!«
»Ich hab ’ s gesehen« sagte ich. »Ein mutiger Diener Christi.«
»Ein Esel!« schloß Xaver ab.
Meine Augen suchten nach der Tochter, die ich mit der Mutter in der Kirche vermutet hatte. Meine Augen glitten hoch zu dem vergitterten Fenster. Da stand sie und nagte grinsend an einem der Knochen, wobei man durchaus hätte meinen können, sie strecke ihrem Vater die Zunge raus. Als sie meinen Blick
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