Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
da alle anderen Paläste und Kirchen rings um längst im tiefen Dunkel ihrer Gärten l a gen.
»Dies muß der Ort sein!« zischte Vitus dem enttäusc h ten Legaten zu, der sich ratlos umsah.
»Es ist der Ort«, sagte der arabische Kaufmann, »und er öffnet sich wohl nur dem, der morgen erhobenen Hauptes durch sein Portal schreiten kann!«
»Ihr habt gut reden«, nörgelte Simon, »Euch betrifft dies Problem ja nicht!«
»Laßt uns jetzt zurück zum Schiff gehen«, drängte Fra Ascelin, und sie begannen den Abstieg.
Hamo hatte sich ausgerechnet, daß seine Mutter um di e se Zeit schon längst zu Bett sein mußte. Er war es leid, in den Straßen der Stadt herumzulungern, und beschloß daher, sich nächtlicherweise in den Palast zurückzubeg e ben. Der unterirdische Gang war ihm bei Dunkelheit nicht sonde r lich geheuer, schon wegen Styx und der Ra t ten, und da er die Herbstnacht als einladend und ang e nehm lau empfand, nahm er eine Abkürzung der sich in Serpentinen winde n den Zufahrtsstraße, deren steile Treppen direkt vor dem Hauptportal mündeten. Er war gerade im Begriff, die let z ten Stufen zählend zu bewält i g en, als er die verdächtigen Silhouetten vor der Helle der Fackeln vorbeihuschen sah. Die ersten konnte er nicht erkennen, doch dann kam einer, den sie zerrten, und der Feuerschein fiel lang genug auf sein Gesicht, und er erkannte die Augen – trotz des Stir n verbandes, trotz der tief gezogenen Kapuze. Das war er! Der schwarze Ve r folger, Vitus von Viterbo, der Hamos unglückseligen Zug durch ganz Italien bis in die Alpen b e lauert und bedrängt hatte. Kein Zweifel. Das verdächtige Verhalten seiner Begleiter bestärkte Hamo in der Gewi ß heit seiner En t deckung.
Die Wachen zu rufen war es zu spät, den Bischof zu wecken sinnlos, zumal ihm der Name des Viterbesen nichts sagen würde, und ihn erst lang und breit über die Gefäh r lichkeit des wölfischen Inquisitors aufzuklären, verspürte er keine Lust. Guiscard war der Mann, den er sofort b e nachrichtigen mußte.
Seufzend drehte Hamo um und sprang die Treppen, die er gerade mühsam erklommen hatte, in langen Sätzen h i nunter zum Hafen. Fast hätte er einen Betrunkenen umg e rissen und wollte ihn mit einem derben Fluch b e denken, doch dann sah er, daß der Mann unter seinem Umhang den kostbaren Ornat eines Bischofs trug und seinerseits wütend mit dem Krummstab nach ihm schlug. Geschickt wich Hamo aus und wollte nach einer knapp gemurmelten En t schuldigung weiter rennen.
»Halt, du junger Flegel!« beschimpfte ihn der Mann, der Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. »Geht ’ s hier zum Empfang des lateinischen Bischofs?«
»Nicola?« fragte Hamo und blieb verunsichert stehen.
»Was weiß ich!« grummelte der Fremde unwirsch. »Es geht um die Vorstellung irgendwelcher Prinzen«, schnaufte er, »und zu trinken wird ’ s ja auch wohl geben. Einen guten Wein habt ihr hier!«
Hamo beschloß den reichlich verfrühten Gast sch o nungslos aufzuklären. »Die Präsentation der königlichen Ki n der findet mittags um zwölf statt –«
»Jeden Tag?«
»Nein, nur morgen«, Hamo wußte nicht, ob er sich ä r gern oder amüsieren sollte, »und jetzt vergebt mir, ich hab ’ s eilig!«
»Nicht so hastig, junger Freund«, hielt ihn der Fremde zurück. »Ich bin Galeran, Eures Bischofs Amtskollege in Beirut, und Ihr begleitet mich jetzt diese verdammten St u fen hinab, bis zur nächsten noch offenen Taverne!« Er ha t te sich inzwischen Hamos Ärmel bemächtigt, so daß di e sem gar nichts anderes übrigblieb, als ihn unterzuh a ken und Schritt für Schritt die Treppen hinabzugeleiten.
Die Nacht des Styx
Konstantinopel, Herbst 1247
Unter seinem Baldachin wälzte sich der Bischof unruhig im ersten Schlaf. Nicola della Porta hatte lange noch auf die Rük-kehr Hamos gewartet und seine Tante Laurence de Belgrave verwünscht, deren Anwesenheit im Kall i stos-Palast den Jungen praktisch in den Untergrund, wenn nicht aus dem Hause trieb.
Das Gespräch mit Gavin war auch nicht dazu angetan gewesen, ihn zu beruhigen. Hätte er doch nie diesen Flüc h tlingen aus Otranto unter seinem Dach Obhut gewährt! Jetzt beherrschte ihr Schicksal die Szene, die mi l den Tage lockerer Ausübung des Amtes und lässiger B e schäftigung mit den Aufgaben, die nicht seines Amtes waren, hatten ein Ende gefunden, nein, nicht abrupt, eher einem Strick gleich, der sich um seinen Hals zusamme n zog. Die Angst hatte den Bischof eingeholt, er knäulte sein
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