Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
bruder verwiesen? Als ob sein Mißtrauen an höherer Ste l le Gehör gefunden habe, ertönte deutlich die Stimme – von wo?
»Sprich, Vitus von Viterbo! Oder willst du dein Miß t rauen gegen mein Vertrauen wägen?«
Vitus war zusammengezuckt, Fra ’ Ascelin lächelte au f fordernd. »Es geht um die Kinder«, flüsterte der Viterb e se. »Diese Ketzerbälge, diese Stauferbrut.«
Vitus wurde zum Verschwörer. »Sie sind aus dem Montségur entkommen! Ein gewisser William von Roe b ruk, auch einer von diesen unzuverlässigen braunen Spa t zen unseres Vogelfreundes von Assisi, ist seit der Nacht vor der Übergabe spurlos aus dem Feldlager verschwu n den. Ich will zwar nicht behaupten, daß er mit diesem Komplott zu tun hat …«
»Ist das ein Grund, im Languedoc ein Blutbad unter Waisen ihres Alters anzurichten? Herodes nennen sie dich, der Kirche Scham und Schande!«
»Wir haben«, verteidigte sich Vitus, »nach Überprüfung der Identität noch ein jedes aufgegriffene Kind seinen E l tern, seinem Heim oder einem Kloster zurückgegeben, ke i nem ein Haar gekrümmt – da seht Ihr, wie man die Inquis i tion verleumdet!«
»›Wo Rauch ist, ist auch Feuer‹, sagt das Volk. Die Ke t zer triumphieren: ›Da seht ihr die heilige katholische Ki r che – eine gemeine Kindsmörderin!‹ – und du stehst mit leeren Händen da!«
»Alle Häfen werden überwacht!« gab Vitus klein bei.
»In Marseille wurden sie gesichtet«, ließ sich die u n sichtbare Stimme noch einmal vernehmen; sie verbarg ihre Enttäuschung nicht. »Beratet Eure nächsten Schritte wohl!«
Vitus hatte sich verschluckt und blickte um sich, dann nach oben in die Höhe. Doch er sah nur Schränke und Bo r de, angefüllt mit vertraulichen Dokumenten, Spitzelberic h ten, Personalakten, Fälschungen und geheimen Urteilen, offiziellen Bullen und nicht publiken Verträgen. »Ich dac h te mir«, druckste er, »ein ungetreuer Franzisk a ner kann eigentlich nur eine Adresse anlaufen: Elia von Cortona …«
»Wir haben ein Auge auf den Bombarone, Bruder, sei beruhigt«, nahm Ascelin das Gespräch wieder auf, »doch wahrscheinlich ist, daß dieser Minorit nur benutzt wurde, um eine falsche Fährte zu legen. Wer auch immer den Plan geschmiedet hat, er wird seine Ausführung nicht in die Hände eines solchen …«
»Ihr habt recht!« Vitus hatte jetzt volles Vertrauen zu seinem Gegenüber und wollte gerade wieder ansetzen, als ihn Ascelin brüsk unterbrach und ihm Schweigen gebot. Ein Rascheln war zu hören. Hinter einer Rega l wand auf einer hohen Bibliotheksleiter hockte Lorenz, wie eine ze r zauste Eule, auf den Knien einen Skizzenblock, und zeic h nete mit Rötel. Ganz offensichtlich waren die beiden D o minikaner seine Studienobjekte.
»Komm da runter!« befahl Ascelin. Lorenz ließ sich Zeit, beendete sein Werk mit ein paar kühnen Strichen.
»Solltest du nicht im Kerker sein?« bemerkte Ascelin leichthin, während er ihm den Block abnahm.
»Nur bis ich das Wasser von den Wänden lecke«, grinste Lorenz, »das hab ’ ich sogleich getan.«
»Weiß der Kardinal das?« versuchte Ascelin sich Stre n ge zu verleihen.
»Er weiß alles«, antwortete Lorenz frohgemut.
Vitus hatte inzwischen das Blatt in Augenschein g e nommen. Es zeigte ein gelungenes Portrait, wenn auch leicht übertrieben, von ihm, aber keine Studie von Ascelin, nicht mal die Andeutung einer Skizze. Das machte ihn stutzig.
»Was soll das?!« fuhr er den schmächtigen Minoriten an.
»Ihr habt einen so markanten Kopf«, schmeichelte ihm der Künstler mutig mit einem Blick auf die mächtigen Pranken seines Gegenüber, »daß ich nicht widerstehen konnte.«
Vitus fletschte verlegen sein Gebiß mit den mächtigen Kinnladen, als er ihm gönnerhaft den Block zurückreic h te.
»Lorenz von Orta genießt gewisse Narrenfreiheit«, l ä chelte Ascelin. »Der Trott hier im Castell, Tag und Nacht im Dienst der Kurie, geheim wie verantwortungsvoll, braucht immer wieder eine provokatorische Auffr i schung, sonst fressen wir uns hier gegenseitig auf!«
»Es tut mir leid«, brummte Vitus, kaum daß Lorenz sich entfernt hatte, »daß ich Euch anfangs mißtraute. So lang bin ich nun schon im Außendienst, daß ich mit den Gepfl o genheiten der guten alten Engelsburg nicht mehr so ve r traut bin.« Ascelin lächelte ihm aufmunternd zu, was Vitus sogleich mißverstand. Er verfiel in einen vertraulichen Plauderton: »Was also wißt Ihr hier über die Ki n der, Fra ’ Ascelin?«
»Ihr wißt genug!
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