Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
Genug, um Euch an die Erledigung Eurer Aufgabe zu machen. Bruder Vitus von Viterbo, Ihr werdet in der Sala Mappa Mundi erwartet!«
Die Stimme des Grauen Kardinals zeigte auch diesmal keine Regung. Doch Vitus wußte, mit wem er es zu tun hatte. Er war froh, entlassen zu sein. Dieser Lorenz von Orta mochte Narrenfreiheit genießen, für andere war hier ein falsches Wort das letzte. Er verabschiedete sich mit einem Nicken von seinem Ordensbruder und verließ das Archiv für Imperiale Angelegenheiten.
Im großen Saal schrubbte Benedikt von Polen den B o den. Lorenz hatte einen Eimer mit roter Farbe vom G e rüst gestoßen. Die Spritzer reichten hinauf bis nach Ne a pel, und auch in der Terra Sancta waren Kleckse, aber ein roter Schwall ergoß sich, wohl vom Sturz des Eimers, von Osten her über Bagdad bis nach Syrien.
Vitus stand noch unschlüssig vor der Mappa Mundi h e rum, dachte an Aufstieg und Fall, an viel vergossenes Blut, als eine Pergamentenrolle zu seinen Füßen au f schlug. Von nun an wurden ihm die Aufträge wohl schriftlich erteilt, damit ›Er‹ ihn besser nageln könnte. Er bückte sich und hob sie auf. Beim Wiederaufrichten fiel sein Blick auf den gekreuzigten Christus in der Ecke, und er tat sich leid.
Der Verfolgten Wahn
Sutri, Sommer 1244 (Chronik)
Als ich mich zu Marseille aus dem Wasser gerettet hatte, war mein Lebensmut dahin. Ich traute mich nicht mehr, dem Se-neschall, geschweige denn meinem König, unter die Augen zu treten. Die wenigen Tage der Reise mit den Kindern hatten mich von meiner bisherigen Existenz abg e schnitten. Ich kroch auf das Ufer wie ein Schiffbrüch i ger auf ein fremdes Eiland. Gut – ich war gezwungen worden, ich hätte die alte Hexe als Zeugin vor Gericht zitieren kö n nen – doch was hatte ich bei der zu suchen? Und Gavin? Er würde mich verleugnen – oder an ein Inquisitionstribunal überweisen lassen. Bestenfalls würde man mich in einem geheimen Kerker ermorden lassen. Ich war ein idiota, g e naugenommen ohne Identität. Ich hatte sie verloren. Ich konnte jedem erzählen, mein Name sei William, aus Roe b ruk in Flandern – gut, dahin hätte ich zurückkehren kö n nen, meinen Eltern die Schande zu bereiten.
Ich war nahe daran, ins Wasser zurückzugehen, als ein pisani-sches Kaufmannsschiff sich dicht an mir vorbe i schob. Die Italiener hatten mehr Spaß als Mitleid mit dem klatschnassen Mönch. Ich stopfte meinen Beutel, einziges handfestes Beweisstück me in er früheren Ex i stenz, unter die Kutte und sprang. Ich paddelte, bis ich das erste ausges t reckte Ruder erreichte, hilfreiche Hände zogen mich an Bord.
Ich machte mich so nützlich wie mir möglich, bestrafte mich mit selbst auferlegtem Fasten, doch die meiste Zeit mußte ich für den Kaufherrn, einen gewissen Plivano, b e ten. Wir segelten durch genuesische Gewässer! Zwar u m fuhren wir des Nachts die Inseln mit ihren Garnisonen und versteckten uns tagsüber in verschwiegenen Buchten, aber er hatte furchtbare Angst.
Endlich erreichten wir die Toscana. Bevor sie den Arno aufwärts ruderten, wurde ich – reich beschenkt, ich hatte ihm Glück gebracht – am Ufer abgesetzt. Es war vor a l lem ein kostbarer, knallroter Brokatmantel, innen mit Seide ausgeschlagen, und ein gleichfarbenes samtenes Gewand. Dazu Beinwerk und Sa-fianstiefel. Ich fühlte mich wie ein Künstler, wie einer dieser berühmten itali e nischen Portrait-Maler, die ich am Hofe Ludwigs ges e hen hatte, denen jeder geschmeidige Pinselstrich mit Gold aufgewogen wurde, denen Fürsten und Fortuna lächelten; als so einen begnad e ten Herrn sah ich mich in meinem neuen Reisehabit. Meine Franziskanerkutte, eh vom Meerwasser stinkend, warf ich weg. Nur das Hol z kreuz behielt ich.
Ich wanderte die Küste hinab. Erstaunt aufblickende F i scher, die ihr Netzwerk flickten, heischten meinen Segen, den ich ihnen auch gern erteilte – sah man mir doch den Diener Gottes an? Von den braven Leuten ließ ich mir den nächsten Gasthof weisen.
Vor dem einsam gelegenen Anwesen an der nach Rom führenden Aurelia stand ein Fuhrwerk, seltsam aufg e putzt mit Glöck-chen und farbigen Bändern. Es war ein zweirä d riger Karren, der gleich hinter dem Kutschbock zeltartig verschlossen war. Ein buckliger Knecht von kräftiger St a tur versorgte das Pferd und maß mich abschätzenden Bl i ckes.
Die Gaststube war leer. Es dauerte lange, bis der Wirt erschien, zerzaust und sich die Hosen im Schlurfen hoc h ziehend, als e r m ich, den hohen Gast,
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