Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
– und verliebt! Wir w a ren von dem Fieber befallen, unsere Lust auf Abenteuer, unsere Jugend mit der Wiedergewinnung Jerusalems in einen Topf zu werfen. Der Kreuzzug der Kinder! Wir ließen uns mi t reißen in diesem Strom von Freiheit und Gläubigkeit, von dieser undifferenzierten Liebe zu Jesus und unseren eig e nen Körpern –«
Sigbert sann den Ereignissen des Jahres 1113 nach, in denen in ganz Europa die Kinder davonliefen mit der Sucht nach einem anderen Leben, einem Leben in Christo, in e i nem Paradies un-ausgegorener Freuden, in einem die Überwindung aller Hemmnisse beiseite fege n den Taumel.
»Anfangs zogen wir gemeinsam durch das Land gen Süden, wurden auch vom Papst in Rom empfangen, der uns nichts anderes anzuempfehlen wußte, als nach Hause z u rückzukehren. Also zogen wir weiter zu den Häfen im S ü den. Anna war fünfzehn, ich kaum zwei Jahre älter. Sie wollte nicht länger das kleine Mädchen sein; sie hatte mir den Karzer nicht heimlich aufgetan, damit ich jetzt wie ein älterer Bruder händchenhaltend an ihrer Seite schritt. Sie verlangte nach mir als ihrem Mann« – Sigbert hatte doch Mühe, seine ihm damals zugedachte Rolle richtig einz u schätzen. »Ich hatte ein hohes Verständnis von wahrer Li e be – und dachte vielleicht etwas verächtlich von der fle i schlichen. Wir waren nie allein. Anna hätte es nicht gestört, aber ic h e mpfand Scham bei dem Gedanken, so unter den Augen aller zu kopulieren, wie es gar viele machten. Ich schob die erste Nacht, die erste für uns beide, denn auch sie war noch jungfräulich, immer wieder hinaus, auf eine ›würdigere‹ Gelegenheit. Dann traten neue Strömungen in unserem Zug zutage – kleine eifernde Novizen und blasse, verkniffene Nonnen übernahmen das Kommando. Es wu r de auf strenge Trennung der Geschlechter geachtet. Wir sahen uns nur noch sp o radisch, heimlich – kaum, daß wir verstohlen Küsse au s tauschen konnten. Dann erreichten wir den Hafen von Amalfi. Wir wurden auf verschiedene Schiffe verladen – und dann –« Sigbert unterbrach seinen Erzählfluß. Es kam ihn doch härter an, als er sich das a n fangs vorgestellt hatte. Vielleicht hatte er noch nie jemand so zusamme n hängend über sein Leben berichten können.
Laurence ließ ihm Zeit, drängte nicht durch neugierige Fragen. Sie wußte im Prinzip, was damals geschehen war. »Ihr fielt in die Hände maurischer Sklavenhändler?«
»Ja«, sagte Sigbert bitter, »wir waren verkauft – von Christen verkauft! –, als wir die Schiffe bestiegen. Über Annas Schicksal machte ich mir keine Illusionen. Ich hatte sie aus den Augen verloren, als wir Amalfi verli e ßen. Ich kam nach Ägypten, wurde von der Frau eines Gelehrten aus Alexandria ersteigert, der mich bald aus dem Hause haben wollte, jedenfalls tagsüber, wenn er nicht da war. So nahm er mich mit zur großen Bibliothek, unter dem Vo r wand, daß ich seine Bücher tragen mußte. Als er ein gewi s ses Interesse für seine Schriften bei mir bemerkte, ließ er mir Unterricht in Arabisch und Griechisch erteilen und nahm mich unter seine Studenten auf. Eines Tages erschien ein hochgebildeter Emir und war entzückt von meinem Wissen über die verschiedensten, verborgenen Werke di e ser größten Bibliothek der Welt, in der ich mir vorstellen konnte, lesend und notierend den Rest meines Lebens zu verbringen. Doch dem, selbst unausgesprochenen, Begehr einer so hochgestellten Persö n lichkei t m ochte sich mein Herr nicht widersetzen. Ich wurde verschenkt, beziehun g sweise gegen andere Geschenke oder Gunstbeweise eing e tauscht. Ich hatte Glück: Der Emir war ein leutseliger Herr, den Christen gegenüber frei von Vorurteilen –«
»Und weiter?« Sigbert fiel gar nicht auf, daß seine g e duldige Zuhörerin plötzlich ein Interesse zeigte, das über die übliche Teilnahme an seinem Schicksal hinausging. »Ihr kamt also bis nach Kairo?«
»Mein neuer Herr eröffnete mir gleich, daß er nicht g e dächte, mich als Sklaven zu betrachten, zumal ich ein Deutscher sei, deren Kaiser er äußerst schätzen gelernt h a be und deren Sprache er schon dessenthalben zu ve r stehen wünsche. Er führte mich in seinem Palast als ›Hauslehrer‹ ein, damit bei seinem Personal gar keine Zweifel über me i ne Stellung aufkämen. Er ließ sich meine Geschichte erzä h len, soweit ich sie jetzt vor Euch ausgebreitet habe. Sie muß ihn zutiefst erschüttert haben. Er umarmte mich und sagte: ›Du bist ein freier Mann. Du kannst mein Haus
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