Gral-Zyklus 1 - Die Kinder des Gral
Bögen abg e fangen wurden. ›So was sollten wir uns zu Albi auch ruhig trauen‹, schoß es ihm in den Sinn, ›und leisten!‹ Er wec h selte vom leicht schwankenden Baugerüst auf den Lau f gang unterhalb des Triforiums und fand den gesuchten Z u gang zu einer der engen Wendeltreppen, die ve r steckt in die Arkaden eingelassen waren. Gut und gern ein Schock steiler Stufen zählte er, sich im Dunkeln dr e hend, daß ihm fast schwindelig ward, bevor er am obe r sten Lichtgaden wieder ins Freie taumelte. Der Anblick raubte ihm den ve r bliebenen Atem: Sicher fünfzig Fuß schossen die Rippen der hohen Fenster wie Speere in den Himmel, einen Hi m mel, den sie mit ihrem filigranen Maßwerk schon vorwe g nahmen. Monsignore Durand sah hinab auf den blinkend sich windenden Lauf des Tarn und hinter dem dunklen Grün der Wälder des Montech ragte die blaue Kette der Pyrenäengipfel. Diesmal bestieg er die Leiter weit vorsic h tiger und konzentrierte seinen Blick fest auf die nächste Sprosse, bis er oben war, wo der schmale Gewölbeansatz durch einige Bretterbohlen verbreitert war. Dann sah er auch gleich den Baumeister. Bertrand de la Beccalaria b e aufsichtigte das Abnehmen der hölzernen Leergerüste, die das Setzen der Strebebögen gestützt hatten. »Solch fei n zierlich ’ Steinwerk«, ging er schnaufend, aber lachend auf den Gesuchten los, »hätt ’ nicht den ersten Schuß Eurer K a tapulte übersta n den, Meister, geschweige denn ein heftiges Räuspern meiner adoratrix! Ich entbiete Euch Gruß und Hochachtung!« Der Angesprochene hatte kaum aufge b lickt, seine Augen waren dem gespannten Tau der Tretwi n de gefolgt, bis das klobige Holzstück auf der tiefer geleg e nen Gerüstebene aufgesetzt hatte. Dem verständigen D u rand fiel auf, wie jung an Jahren eigentlich der Ba u meister noch sein mußte, auch wenn sein Haar früh ergraut war. Beccalaria bewegte sich mi t d er Geschicklichkeit e i nes Steinbocks im Fels. »Ihr wollt, steht zu hoffen, Eure A n dachtsschleuder nicht auch hier einsetzen, Mon-signore« entgegnete er spöttisch. »Sanctus Petrus ist ein Gemäuer, das fest auf katholischen Fundamenten steht – und«, er wies auf die kühn geschwippten Streben, die in halsbrech e rischer Arbeit von den Zimmerleuten von ihrer Bretterve r schalung befreit wurden, »das einzige, was ich fürchte, ist der Winter und sein Frost!« Er kam auf den B i schof zu und schüttelte ihm die Hand. »Wir haben Frieden«, sagte D u rand, »und die Zerstörerin ruht zerlegt und eingefettet, ich hoffe, sie nicht noch einmal hervorholen zu müssen – Au f bauen, dem Herrn zu höchster Ehr, wie Ihr hier, das sollten wir!« Doch Beccalaria schien nicht von der plötzlichen Friedfertigkeit des kri e gerischen Bischofs überzeugt: »Die Mauern von Quéribus fordern die Übe r zeugungskraft Eurer adoratrix nicht heraus?«
»Das geht die Kirche nichts mehr an, jedenfalls nicht den Bischof von Albi, – das ist allein Sache des Königs von Frankreich – und vielleicht noch die des Herrn von Te r mes!«
»Oliver?« fragte der Baumeister leise nach, und dem B i schof entging nicht, daß sich seine Züge verdunkelten, doch ohne eine Bestätigung abzuwarten ging Beccalaria seinen Besucher direkt an: »Weswegen, Exzellenz, seid Ihr gekommen? Doch nicht um alte ›Waffenbrüderschaft‹ au f zuwärmen?«
»Welch liebenswerter Euphemismus, Meister – ich kam als aufrichtiger Bewunderer Eurer vielgerühmten Ba u kunst. Auch wir in Albi tragen uns mit dem gottgefäll i gen Gedanken –«
»Und das schon lange«, unterbrach ihn der Beccalaria, »doch der Geiz und die Engstirnigkeit Eurer wohlbetuc h ten Bürger läßt sie mit ihren fetten Ärschen auf ve r schlossenen Säckeln und Truhen hocken, statt für das Heil ihrer Seelen den vom Bischof gewünschten Bau einer Kathedrale zu finanzieren!«
»So ist es!« seufzte der Angesprochene. »Aber dies ist nicht der wahre Grund Eures persönlichen Erscheinens -?« Monsignore Durand schaute lange auf das unter ihm li e gende Land, die Stadt am Fluß, die Burgen und Klöster auf den H ü geln, die Marktflek-ken und Höfe in den Tälern, zwischen Feldern und Wäldern. Ein Bild des Friedens, wohlanständig und gottesfürchtig – doch trügerisch. Der Geist der Ketz e rei schwelte immer noch unter den Dächern wie nicht abgezogener Rauch, und hinter den Mauern glimmte das Feuer der Auflehnung gegen die aufgezwu n gene Her r schaft der Franzosen. »Auf dem Montségur gab es zwei Kinder«,
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