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Gran Reserva

Gran Reserva

Titel: Gran Reserva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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das gerne.«
    »Weißt du, was ich früher gemacht habe, Max, wer ich früher war?«
    »Nein.«
    »Rate! Na los, keine Scheu! Rat einfach.«
    Um Gottes willen. Was wollte dieser Mann jetzt hören? Was Maskulines wahrscheinlich. »Stierkämpfer?«
    Ein heiseres, von vielen Zigarren aufgerautes Lachen ertönte und hallte von den unverputzten Steinen der Hauswände wider. »Sehe ich so aus? Nein.«
    »Sie waren Winzer?«
    »Nein nein.«
    Puh.
    »Du kommst nicht drauf, Max. Ich war beim Zirkus. Ein richtiger Zirkus, wir hatten nicht viele Tiere, aber wir hatten welche. Man sieht es mir heute nicht mehr an, aber das war ich. Ein Vagabund, Max. Nun darfst du noch einmal raten: Was habe ich beim Zirkus gemacht?«
    Das war ja wie bei »Wer wird Millionär?«. Nur Geld gab es vermutlich keines, und leider auch keinen Publikumsjoker. Oder vielleicht doch? Er lehnte sich hinter Ikers Rücken zu Cristina. Doch die gab ihm nur einen Kuss auf die Wange. »Musst schon selber drauf kommen, du Schummler.«
    »Feuerspucker?«
    Max erntete vergnügtes Kopfschütteln.
    »Trapez? Fakir? Löwendompteur?«
    »Fast.« Iker sah zu seiner Enkelin. »Er ist gar nicht so schlecht.«
    »Das heißt, du bist gut«, übersetzte Cristina. »Mach weiter.«
    Also Dompteur. Was konnte man noch domptieren? Gab es dieses Wort überhaupt? Hunde, Katzen, Pinguine, alles keine Tiere, auf die man so stolz sein würde.
    »Bärendompteur?«
    Ikers Lächeln verschwand. »Donnerwetter! Und du hast ihm nichts verraten, Cristina?«
    »Kein Wort.«
    Der Alte legte Max die Hand auf die Schulter. »Ja, ich war Bärendompteur.« Eine Träne erschien in seinem Augenwinkel. »Viele lange Jahre. Schöne Jahre, Max. Aber ohne Bär kein Dompteur. Und irgendwann ist man zu alt, um einen neuen zu trainieren. Es ist ein bisschen wie eine Ehe, so eine lange Zeit mit einem Tier, sechzehn Jahre waren es bei mir. Sechzehn Jahre!«
    Cristina schmiegte sich an ihren Großvater wie ein kleines Mädchen. »Meine Mutter hat mir immer erzählt, was für tolle Nummern du mit ihm gezeigt hast. Der Bär konnte Einrad fahren, rutschen, tanzen, und der Höhepunkt«, sie riss die Augen weit auf, »war der Todeskuss.«
    »Ja«, sagte Iker. »Der Todeskuss. Das war der Höhepunkt.«
    »Der Todeskuss?«, fragte Max.
    »Dabei fütterte er dem Bären von Mund zu Mund ein Stück Fleisch. Niemand sonst beherrschte diese Nummer in ganz Europa.«
    »Niemand«, sagte Iker, den Blick glasig, die Augen wässrig. »Nur wir zwei. Es gab keinen Bären wie ihn, er war der Beste.«
    Max konnte es sich bildlich vorstellen. »Mit Hütchen auf dem Kopf?«
    »Nein.« Iker schüttelte entschieden den Kopf. »Kein Hütchen. Niemals. Nicht er! Einem Bären muss man seine Würde lassen.« Jetzt flossen die Tränen. »Mir ist was ins Auge geflogen, ich muss nach Hause. Komm mich bei Campillo besuchen, Max. Morgen. Komm mich morgen bei Campillo besuchen. Ich möchte mit dir reden. Von Mann zu Mann. Sei da.« Zügigen Schrittes ging er davon.
    Cristina spazierte mit Max durch La Bastide, zeigte ihm, wo sie mit ihrem Großvater wohnte, wo sie zur Schule gegangen war, wo sie das erste Mal einen Jungen geküsst hatte, wo sie war, als ihre Eltern bei einem Autounfall starben. Es war eine ganz persönliche Sightseeingtour, Orte, die völlig normal aussahen und doch mit so viel Bedeutung aufgeladen waren. Max versuchte mehrfach, Cristinas Hand zu greifen oder gar ihre Hüfte zu umfassen, aber jedes Mal verhinderte sie es beiläufig, als habe er nur Pech gehabt, als könne ein neuer Versuch von Erfolg gekrönt sein. Es war ein langer Spaziergang und bereits dunkel, als sie sich verabschiedeten, mit Küssen auf die Wange. Sie kamen ihm zärtlich und lang vor, aber das mochte auch Wunschdenken sein. Ihr Blick erschien ihm wärmer und vertrauter als jemals zuvor.
    Das unspektakuläre Städtchen fand er plötzlich wunderschön. Er wollte nicht weg von hier. Zu gehen, würde sich anfühlen, als gehe er fort von Cristina, und das konnte er nicht, wollte er nicht.
    Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er schon lange nicht mehr an die Morde gedacht hatte. Doch nun waren die zermürbenden Gedanken zurück, und es schien, als hätten sie ihre Kräfte gesammelt.
    Max war völlig in seinen Gedanken versunken und bemerkte nicht, wie sich Gestalten von hinten näherten, auf den Moment warteten, in dem niemand sie beobachtete, an einer Stelle, wo die Schatten lang genug waren.
    Erst als sie diesen Punkt erreicht hatten, trat einer der Männer

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