Gran Reserva
Fünf Etagen.
Aus dem Keller stieg Iker empor, umarmte ihn herzlich, klopfte ihm sogar auf den Rücken, als würden sie sich seit Jahrzehnten kennen. »Zuerst probieren wir was, Max, ja?«
Max nickte.
»Eigentlich machen sie das immer erst am Ende einer Tour. Aber das ist bei dir was anderes. Willst du alles probieren? Natürlich willst du das. Komm, wir gehen in das Probierzimmer für besondere Gäste.«
Der Raum war groß und luxuriös ausgestattet, mit ledernen Polstersesseln und einem Holztisch, der so massiv wirkte, als hätte selbst Godzilla Probleme, ihn kaputt zu treten.
»Fangen wir mit dem Rosé an, ja? Du trinkst doch Rosé, oder? Ist reiner Tempranillo, ausschließlich Vorlaufmost, der kommt von alleine, oder nur durch ganz leichtes Andrücken der Trauben. Schau dir die Farbe an, wie frischer Himbeersaft!« Iker nahm einen genüsslichen Schluck, bevor er Max einschenkte. Mit dem im Holzfaß vergorenen Weißwein aus der Viura-Traube ging es weiter.
»Eine gute Rebe für La Rioja, die wichtigste hier. Ihr macht die Trockenheit nichts aus!«
Dann folgten die Rotweine Reserva, Reserva Selecta, Reserva Especial, Gran Reserva, und schließlich holte Iker noch eine Flasche, die er behandelte wie ein rohes Ei.
»Das ist der Cuesta Claro”.« Seine Stimme nahm einen ehrfürchtigen Klang an, als befänden sie sich in einer Kirche. »Sehr selten, raro! Er wird ausschließlich aus Tempranillo-Peludo-Rebstöcken gewonnen, das ist eine Spielart des Tempranillo, die nur sehr wenig Trauben erbringt – dafür aber sehr gute, mit starken Aromen. Doch alle wollen immer nur mehr Trauben und noch mehr, deshalb gibt es den Peludo so gut wie nicht mehr. Die Trauben werden alle auf der Finca Cuesta Clara handgelesen, und der Wein reift sechsundzwanzig Monate in französischen Barrique-Fässern aus Allier-Eiche. Leider kann ich dir nichts davon anbieten, Max. Er wird nicht in jedem Jahr produziert, verstehst du, aber zeigen wollte ich ihn dir zumindest.« Zärtlich stellte er die Flasche ab.
»Hat Faustino auch einen so besonderen Wein?«, fragte Max, während er mit den Fingerkuppen über das Etikett des Raro fuhr und Iker damit ein Lächeln entlockte.
»Es gibt da einen, aber den habe selbst ich erst einmal getrunken. Das ist ein Wein. Das ist der Wein. Er ist Perfektion, er ist das, was ein Gran Reserva sein soll: Tiefe, Harmonie, Leichtigkeit und auf eine nicht zu beschreibende Art flüssige Historie. Wenn du einen gereiften Rioja trinkst, fühlt es sich immer an, als würdest du Jahrzehnte auf einmal in dich aufnehmen, da sind all diese dunklen Aromen wie Leder, Waldboden, Trüffel, Holz.
Wir sind manchmal nicht im Reinen mit unserer Vergangenheit, Max, aber ein großer Rioja versöhnt uns mit ihr. Und wenn auch nur für den kurzen Augenblick des Genusses. In der Jugend sind unsere Weine manchmal hart und eckig, mit dem Alter schleifen sich die Kanten ab, alles wird geschmeidiger, sie werden sanft, so wie unsere Erinnerungen – im besten Fall. Die Erinnerung, Max, sie will stets heilen. Ein guter, ein großer Gran Reserva ist wie Medizin für unsere Seele. Und dieser eine ganz besondere Gran Reserva, Max, er ist wie flüssiges Glück. Ich kannte den Weinmacher, der ihn einst in die Flasche brachte, es war sein letzter Jahrgang. Vincente hieß er, und er hat all sein Wissen, all seine Liebe hineingelegt. Vielleicht sogar etwas von seiner Seele. Ganz bestimmt sogar. Es ist ein beseelter Wein. Der 64er Faustino I.«
»Wo kann ich ihn kaufen? Ist er teuer?«
Iker lachte laut und strich Max wie einem unwissenden Kind über den Kopf. »Nirgendwo kannst du ihn kaufen. Mit keinem Geld der Welt kannst du ihn bezahlen.«
»Er ist komplett weggetrunken?« Max fühlte sich, als sei ihm etwas ungemein Wertvolles weggenommen worden, dabei hatte er es nie besessen.
»Das habe ich nicht gesagt. Es gibt ihn noch. Soweit ich weiß. Drei Flaschen, im Keller von Faustino. Kennst du den Keller?«
Oh ja, dachte Max. Viel zu gut. Doch er nickte bloß.
»Dann weißt du auch, dass sich auf den ganzen gelagerten Flaschen keine Etiketten befinden – weil die in der feuchten Kellerluft schimmeln würden. Und die Fächer, in denen sie lagern, haben bloß Nummern, ja, nicht einmal die Korken verraten, aus welchem Jahr der Wein in den Flaschen stammt. Nur sehr wenige wissen, wo welcher Wein lagert. Die Familie Martinez natürlich, der Leiter der Bodegas Faustino sowie der Exportmanager. Na ja, nun weiß er es nicht mehr. Dafür weiß
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