Gran Reserva
war die Chance gering, dass sich jemand an ihn erinnerte, dafür wurden hier Tag für Tag viel zu viele Besucher durchgeschleust. Die Frau an der Ticketkasse, ihre Führerin, und sogar die Klofrau hatten sie schon erfolglos befragt. Die wusste nur von einer Gruppe Chinesen zu berichten, die ihre geliebte Toilette überschwemmt hatte.
Die Gruppe befand sich auf dem Rückweg zum Eingangsbereich, als Max ein Mönch ins Auge fiel. Es gab Mönche, deren Gesichter die Zeit im Kloster hatte versteinern lassen, die aussahen, als hätte man alle Freude, alles Lebensglück aus ihnen gesaugt und nur Hüllen übrig gelassen. Andere dagegen schienen wie von einem inneren Licht beseelt, wirkten wie im Einklang mit sich und der Welt.
Einige wenige Exemplare sahen aus wie der Metzger um die Ecke. Weder Hülle noch Licht.
Doch wer Rat suchte, wie Alejandro Escovedo es nach Aussage seiner Frau getan hatte, der wollte jemanden mit Licht, jemanden, der aussah, als habe er eine Standleitung nach oben, zur großen Stromquelle.
Und genau so einer kam Max und Cristina nun entgegen. Der sicher zwei Meter große Mönch ging mit erhobenem Kopf und offenem Blick. Ein fast unscheinbares, sanftes Lächeln verlieh ihm die Ausstrahlung innerer Zufriedenheit und völliger Ausgeglichenheit. Der Mann schien genau richtig.
Er trug die Ordenstracht der Augustiner – einen schwarzen Habit mit Kapuze und Ledergürtel. Max ging auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie, Padre. Dürfte ich Sie etwas fragen?«
»Wir Augustiner sind kein Schweigeorden. Sie dürfen mich gerne fragen, und ich werde Ihnen antworten. Wie kann ich Ihnen denn helfen?«
Max zog schnell ein Foto von Alejandro Escovedo hervor, des lebenden natürlich, das er aus der Zeitung herausgerissen hatte.
»Kennen Sie diesen Mann?«
In den grünbraunen Augen des Geistlichen blitzte Erkennen auf. Doch er antwortete mit einer Gegenfrage. »Sind Sie von der Polizei?«
Max zögerte. Einen Moment zu lang.
»Also nicht.«
»Nein«, sagte Max. Das war es dann wohl.
»Gut. Dann bin ich beruhigt. Wir möchten hier keine Polizei. Gehören Sie zu seiner Familie?«
»Nein. Aber wir waren uns sehr nahe.« Eigentlich, dachte Max, standen sie Alejandro Escovedo nahe, wogegen dieser ihnen nahe lag . Aber so genau wollte es der Padre sicher nicht wissen.
»Ist er tot?«
»Ermordet.«
Das Gesicht des Mönchs nahm einen ernsten Ausdruck an. »Er wusste, dass er in Gefahr war. Deshalb kam er ja her. Wir sollten uns irgendwo hinsetzen. Folgen Sie mir bitte.« Er wandte sich um, und sie schritten hinter ihm durch Gänge, die nicht Teil der offiziellen Tour waren. »Wie heißt…wie hieß der Mann? Er nannte mir seinen Namen nicht.«
»Alejandro Escovedo.«
»Baske?«
Cristina nickte.
»Das habe ich gleich an seinem Akzent gemerkt. So, da sind wir.« Er öffnete die alte, verzogene Tür zu einem kleinen Büro, das Max auf unangenehme Art an seine Zelle erinnerte. »Setzen Sie sich.«
Die zwei Holzstühle hatten nicht einmal Sitzkissen. Die Augustiner waren ein Bettelorden. Doch nun war Max der Bettler, denn er wollte Informationen.
»Er war einer unserer Touristenführerinnen aufgefallen, da er lange vor dem Elfenbeinschrein betete, welcher die Gebeine des heiligen Millán enthält. Sie informierte mich und bat, dass ich das Gespräch mit ihm suche, da er auf ihre Fragen nicht reagierte.« Der Padre faltete die Hände vor seinem Gesicht zusammen, Fingerspitze an Fingerspitze. »Alejandro betete leise, seine Lippen bewegten sich, und ich erkannte das ›Ave Maria‹, immer und immer wieder. Ich kniete mich neben ihn und stimmte in das Gebet mit ein. Erst nachdem er mit ›Bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen‹ geendet hatte, blickte er zu mir herüber. Da fiel mir auf, wie sehr er zitterte, und ich legte meine Hand auf seine. Daraufhin sagte er zu mir: ›Ich will San Millán anflehen‹.«
Cristina hatte Max auf der Hinfahrt von dem Heiligen erzählt, der im fünften und sechsten Jahrhundert hier als Eremit in Höhlen gelebt hatte. Erst mit vierzig Jahren fand der Schäfer zu seiner Bestimmung, gab all seinen Besitz den Armen und wurde stolze einhundertundzwei Jahre alt. Sein Grab wurde zur Pilgerstätte, und mit ein bisschen Glück bekam man dort ein Wunder. Gratis.
»Ich sagte ihm, dass er hier richtig sei, und fragte, worum er San Millán anflehen wolle. Da fing er wieder an zu beten. Ich ließ ihn gewähren und stimmte mit ein. Drei ›Ave Maria‹ später sprach er
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