Grand Cru
dieser Jahreszeit war Julien ständig in seiner Kellerei und allerhöchstens mal eine Stunde weg. Bruno schaute zur Sicherheit in Juliens kleinem Büro nach und ging zum Château hinüber, vorbei an Reihen von Reben mit prallen Trauben, über den Parkplatz und die Stufen hinauf zum Haupteingang des Schlossteils, der zu einem Hotel ausgebaut worden war. An der Rezeption war niemand, also schaute er in dem kleinen Büro hinter dem Empfangsschalter nach, wo er Marie-Hélène vorfand, eine pensionierte Kindergärtnerin, die hier schon seit mehreren Jahren arbeitete. Sie saß in einer Wolke aus Lavendelduft vor einem Computer, mit dem sie offenbar auf Kriegsfuß stand.
»Bonjour,
Bruno. Dieser Scheißkasten bringt mich wieder mal zur Verzweiflung.«
»Er soll aber angeblich das Leben leichter machen!« Bruno küsste sie auf beide dick gepuderte Wangen. »Ist Julien zu sprechen?«
»Wer weiß?«, schnaubte sie. »Er lässt sich kaum noch blicken, und wenn, ist er mit seinen Gedanken woanders. Ohne mich würde hier alles den Bach runtergehen. Im Ernst, Bruno, ich mach mir Sorgen um ihn. Wusstest du, dass Mirabelle im Krankenhaus war?«
»Ja, aber das ist doch schon eine Weile her. Wegen irgendeiner Frauengeschichte, sagt Julien.«
»Sie musste noch mal ins Krankenhaus, noch mal für drei Wochen. Julien ist deswegen jeden Tag nach Bordeaux gefahren. Vor zwei Tagen hat er sie nach Hause geholt. Ich habe sie noch nicht gesehen, aber es scheint sehr schlecht um sie zu stehen. Julien will nicht, dass darüber geredet wird. Das war schlecht fürs Geschäft, meint er.«
»Die Trauben müssen geerntet werden«, sagte Bruno.
»Ja, es sind auch schon ein paar Faulenzer aufgekreuzt. Ich weiß nicht mehr, wo ich sie unterbringen soll. Und der alte Esel hat immer noch kein grünes Licht gegeben. Derweil schlagen sie sich den Wanst voll und hängen rum. Schau mal in der Wohnung nach, vielleicht ist er da.«
Bruno durchquerte die prunkvolle Halle mit ihrer riesigen Feuerstelle aus dem 16. Jahrhundert. Er erinnerte sich an ein Fest, als ein Wildschwein darüber gebraten worden war, das unter dem gewaltigen Rauchfang geradezu mickrig ausgesehen hatte. Auch der Raum war so groß, dass sich das Mobiliar darin fast verlor: ein kleiner Kartentisch mit Louis-Seize-Stühlen und zwei Sofas aus der Zeit von Napoleon in., die im rechten Winkel vor einem Tisch mit schwerer Marmorplatte standen. Über einer von zwei Sesseln flankierten Empire-Couch hing eine schöne Kopie von Davids
Madame Récamier,
und vor den Fenstertüren auf der anderen Seite stand ein großer Biedermeierschreibtisch, den eine prächtige vergoldete Porzellanuhr schmückte. Zwei edle englische Bücherschränke nahmen die Stirnwand ein. Bruno, der selbst keine Ahnung von Antiquitäten hatte, konnte all diese Stücke nur deshalb zeitlich einordnen, weil Julien oder wahrscheinlich seine Frau die Einzelstücke mit handgeschriebenen Karten gekennzeichnet hatte - als
»Coin Empire«
etwa oder
»Coin Louis
xvi«.
Bruno fragte sich, ob dies mehr über Julien oder seine Gäste aussagte, und ging zur Fenstertür hinaus, quer über die Terrasse zu dem Gebäudeflügel neben dem Swimmingpool, wo er vorsichtig an die Tür zu Juliens Wohnung klopfte. Weil niemand antwortete, klopfte er erneut, diesmal fester. Kurz darauf flog die Tür auf, und eine deutlich verärgerte Stimme schnauzte: »Ich habe doch gesagt, ich will nicht gestört werden -« Und dann: »Oh, du bist es, Bruno. Entschuldige, aber das Personal lässt mich einfach nicht in Ruhe. Was kann ich für dich tun?«
»Bonjour,
Julien. Ich komme hoffentlich nicht ungelegen.«
Es sah aber ganz danach aus. Julien, normalerweise immer wie aus dem Ei gepellt, trug eine dreckstarrende Hose, ausgelatschte Filzpantoffeln und ein altes Jeanshemd, das eigentlich nur noch als Putzlappen zu gebrauchen war. Er war unrasiert, ungekämmt und hatte eine Alkoholfahne.
»Nein, nein, komm rein. Schön, dass mal jemand kommt, der nichts von mir will. Entschuldige, Bruno, aber ich habe ein paar Probleme.«
»Kann ich helfen?«
Julien nickte und führte ihn ins Wohnzimmer, das noch stattlicher eingerichtet war als die Hotelhalle, aber einen schrecklich vernachlässigten Eindruck machte. Überall standen leere Weinflaschen und schmutziges Geschirr herum, sogar auf dem Boden.
»Wie geht's Mirabelle?«, fragte Bruno.
»Nicht gut. Sie liegt im Bett.
Merde,
was soll's, es lässt sich ja eh nicht länger verheimlichen. Sie hat Leberkrebs und macht
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