Granger Ann - Varady - 01
ich
hatte keine Beschwerde.
»Ein netter Bursche«, sagte ich folgerichtig. Der Traum
einer jeden Frau.
Sie musterte mich. »Wir werden jedenfalls eine vollständige Obduktion durchführen. Es gibt da nämlich jetzt schon
die eine oder andere Sache, die uns Kopfzerbrechen bereitet.
Sie sind absolut sicher, dass Sie alle gestern gemeinsam das
Haus verlassen haben?«
»Das sagte ich Ihnen doch schon, ja! Nev und ich sind nach
Camden, um uns dort etwas anzusehen, wo wir vielleicht
bleiben konnten. Squib ging woanders hin, nach West, glaube
ich. Er war auf der Suche nach einem sauberen Stück Pflaster, um eines von seinen Bildern zu malen. Er ist nämlich
Pflastermaler.«
»Ja, das haben wir überprüft. Warum nennen Sie ihn
Squib? Wenn ich recht informiert bin, lautet sein bürgerlicher Name Henry.«
»Er sieht aber nicht aus wie jemand, der Henry heißt. Ich
habe ihm den Namen Squib nicht gegeben. Soweit ich es
weiß, hieß er schon immer so. Niemand nennt ihn anders.«
Hätte sie Squib gekannt, wäre sie wohl von alleine auf
den Trichter gekommen, dass er nicht besonders viel in der
Birne hatte und jemand sich einen Spaß daraus gemacht hatte, ihn so zu nennen.*
»Aber er ist in Ordnung«, fügte ich hinzu. »Er mag Tiere,
und sie mögen ihn.« Ich beugte mich vor. »Ich weiß, wie er
aussieht, und ich weiß auch, was Sie denken, aber Squib ist
in Ordnung! Sie können ihm vertrauen, wenn Sie wissen,
was ich meine.«
»Und Nevil Porter? Was ist mit ihm?«
Ich musterte sie hart und sagte ganz leise, damit sie genau
zuhören musste und es nicht wieder vergaß: »Lassen Sie Nev in
Frieden. Schikanieren Sie ihn nicht unnötig. Ich weiß, dass Sie
das mit Leichtigkeit tun könnten. Er hätte Ihnen nichts entgegenzusetzen. Er würde alles sagen, was Sie von ihm hören wollen, ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Er war krank. Er
hatte einen Zusammenbruch. Er ist sehr intelligent, aber er
kommt nicht zurecht. Das ist der Grund, aus dem er sein Studium abgebrochen hat. Holen Sie einen Arzt und lassen Sie
den mit ihm reden. Sie können alles nachprüfen. Er hat nichts
getan, und wenn Sie ihn dazu bringen, irgendetwas zu gestehen, dann reicht seine Krankengeschichte mehr als aus, um
vor Gericht alles zu entkräften. Lassen Sie ihn in Ruhe.«
Sie lächelte schmal. »Einiges davon wissen wir bereits.
Der Anwalt seiner Familie hat sich bei uns gemeldet.«
Das war schnell. Sie hatten wirklich keine Zeit verschwendet. Doch ich konnte mir denken, was passiert war. Nachdem
sie Nev von uns getrennt hatten, war er in Panik geraten und
hatte nach diesem Anwalt verlangt. »Hat Nev nach einem
Anwalt verlangt?«
»Ja.« Mit samtener Stimme fragte sie: »Wir wissen bereits,
dass er sehr nervös ist, und wie es scheint, hat er bereits
mehrere Nervenzusammenbrüche hinter sich. Trotzdem,
aus welchem Grund sollte er einen Anwalt brauchen? Würde nicht ein Freund der Familie ausreichen? Oder einer der
Ärzte, die ihn behandelt haben? Wenn er nichts getan hat,
muss er doch lediglich ein paar Routinefragen beantworten,
das ist alles.«
Ich war wütend, weil ich wenige Augenblicke zuvor versucht hatte, all das zu erklären, und sie tat, als hätte ich kein
Wort darüber verloren. Doch ich wusste, dass ich nicht aufbrausen durfte. Ich begegnete ihrem Blick und sagte mit fester, lauter und freundlicher Stimme, genau wie man es uns
in dieser feinen Schule damals beigebracht hatte: »Aber er
hat doch wohl das Recht auf einen Anwalt, oder?«
Sie blinzelte. »Ja, selbstverständlich.«
»Und wo liegt dann das Problem?«
Ich hatte den Ball zu ihr zurückgespielt. Es gefiel ihr
nicht, doch sie konnte nichts anderes tun, als mich mit frostigem Lächeln anzusehen. Ihre Mundwinkel gingen nach
oben, doch ihre Lippen blieben schmal und fest geschlossen.
Es war mehr eine Grimasse als ein Lächeln, und es erinnerte
mich an Terry.
Ich dachte erneut an Nev. Er musste wirklich Angst gehabt haben, dass er einen Zusammenbruch erleiden würde,
sonst hätte er nicht nach dem Familienanwalt gefragt. Er
hatte gewusst, dass dieser Rechtsverdreher als Erstes Nevs
Eltern über die Schwierigkeiten informieren würde, in denen ihr Sohn steckte. Sie würden schneller aus der dunkelsten Wildnis von Cheshire hierher nach London kommen,
als wir mit den Augen blinzeln konnten.
Dennoch spürte ich Erleichterung, weil ich wusste, dass
jemand Nevs Interessen wahrnehmen würde. Auf der anderen Seite war die Polizei dadurch noch misstrauischer
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