Granger Ann - Varady - 01
Ich suchte unter
dem Bett, unter der Matratze, unter dem Teppich. Ich erinnerte mich an ein Buch, in dem die Heldin ihre Liebesbriefe
im Saum des Vorhangs versteckt hatte, damit ihr verschlagener Onkel sie nicht fand. Doch diese Vorhänge besaßen
keinen Saum, und außerdem, wer machte heutzutage noch
so ein Aufhebens um Liebesbriefe?
Entmutigt setzte ich mich auf das Bett. Es war fast fünf
Uhr. Draußen war es inzwischen hell geworden, die Vögel
zwitscherten. Mehrfach hörte ich ein Pferd wiehern. Drüben
im Hof bei den Stallungen wurde wohl schon gearbeitet.
Ich hatte vergessen, die Stofftiere wieder auf die Truhe zu
setzen. Sie lagen in einer Reihe auf dem Teppich und starrten mich aus Glasaugen an. Ich hatte das Gefühl, als säße
Terrys Geist bei ihnen und starrte mich mit dem gleichen
vorwurfsvollen Blick an. Ich sollte etwas finden und hatte es
immer noch nicht. Ich wusste nicht einmal, was es war!
»Es bringt überhaupt nichts, wenn ihr mich alle so anseht!«, sagte ich zu den Stofftieren. Ich stand auf und nahm
sie alle auf einmal in den Arm, um sie auf ihren alten Platz
zurückzusetzen. Als ich dies tat, knisterte eines von ihnen.
Wenn ich etwas Kleines, Schmales zu verstecken hätte,
dachte ich, dann gäbe es schlechtere Verstecke als ein altes
Stofftier. Wenn ich es schon nicht in den Vorhang nähen
konnte wie die Heldin in diesem Buch, dann konnte ich es
wenigstens in eines der Tiere einnähen.
Ich untersuchte eines nach dem anderen. Ich fuhr mit
dem Daumen über die Nähte, zupfte an den Gliedern und
Köpfen und betastete sie.
Bingo! Es war das blauweiße Kaninchen. Als ich seinen
Bauch betastete, knisterte es erneut. Jemand hatte etwas in
seinen Bauch eingenäht, und die Naht war nicht sehr geschickt wieder geschlossen worden. Die Stiche waren weit
und unregelmäßig. Ich nahm eine Nagelschere aus der Frisierkommode und schnitt ein paar Stiche auf. Die Naht ließ
sich leicht auseinander ziehen, und ich steckte meine Finger
in den Bauch des Stofftieres. Ich fühlte ein winzig klein zusammengefaltetes Stück Papier.
Vorsichtig und mit vor Aufregung feuchten Händen zog
ich es hervor. Es waren zwei Blätter, nicht nur ein einzelnes.
Zwei Blätter Briefpapier, klein zusammengefaltet. Entdeckte
ich hier vielleicht gerade eine geheime Leidenschaft? Falls ja,
hatte ich nicht das Recht, diesen Brief zu lesen.
Ich faltete ihn auseinander und warf einen Blick auf die
Unterschrift.
Sie stammte von Ariadne Cameron.
KAPITEL 10 Ich saß auf der Bettkante und
legte die beiden dicken, cremeweißen Blätter Seite an Seite
unter die Nachttischlampe. Sie waren nur einseitig beschrieben, und beide trugen das Wappen des Gestüts. Das
Datum lag drei Jahre zurück. Der Brief begann mit: Lieber
Philip …
Der einzige Philip, der mir in dieser Sache bisher untergekommen war, war Terrys Vater, Philip Monkton. Ich
wusste nichts weiter über ihn, als dass er im Ausland lebte,
nicht besonders beliebt und von Terrys Mutter geschieden
war. Warum dieser Brief von seiner Tante in Terrys Besitz
war und warum Terry geglaubt hatte, ihn verstecken zu
müssen, konnte ich nur herausfinden, indem ich ihn las. Ich
schob jegliche Gewissensbisse darüber beiseite, dass ich in
der privaten Korrespondenz von jemand anderem herumschnüffelte, und überflog den Inhalt mit unschicklicher
Neugierde.
Die Schrift war klein, aber ausgeprägt, die Handschrift
einer gebildeten älteren Person. Nur wenige Menschen
heutzutage sind imstande, so schön, sauber und gleichmäßig zu schreiben wie mit einem Lineal gezogen. Meine eigene Handschrift beispielsweise gleicht eher den Spuren einer
betrunkenen Spinne.
Der Brief begann mit einer allgemeinen Frage nach Philips Wohlergehen und ein paar Anmerkungen zu Ariadnes
nicht gerade blendendem Gesundheitszustand. Dann kam
sie zum Kern der Sache.
Ich schreibe dir, Philip, um dir mitzuteilen, dass ich nun die
Einzelheiten meines neuen Testaments geregelt habe und dass
Watkins, der Nachlassverwalter, alles aufsetzt. Ich werde es am
Montag unterschreiben. Selbstverständlich gilt meine erste
Sorge der Zukunft des Gestüts.
Bis vor kurzem war mein Bruder der Erbe des gesamten
Anwesens. Doch die Zeit ist nicht stehen geblieben, und die
veränderten Umstände haben ein neues Arrangement erforderlich gemacht. Alastair ist nicht mehr der Jüngste, genauso
wenig wie ich, und möchte die Last der Verantwortung nicht
tragen. Außerdem ist Gevatter Tod ebenso sehr hinter seiner
Seele her
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