Granger Ann - Varady - 01
sollten sich vor vorschnellen Schlussfolgerungen hüten. Nur weil ich Jamie nicht mochte, hieß das noch
längst nicht, dass er ein Verbrecher war. Vielleicht machte
er sich tatsächlich Sorgen wegen der »alten Leute« und wollte sie vor mir schützen. Vielleicht war er heute Nacht nur in
mein Zimmer gekommen, um mir Geld anzubieten – und
falls das nicht funktionierte, mich einzuschüchtern, damit
ich verschwand. Doch je länger ich darüber nachdachte,
desto unzufriedener wurde ich.
Was war es, das ihm nicht passte? Dass ich im Haus war?
Oder dass ich in diesem speziellen Zimmer schlief? Falls ja –
war es nur Sentimentalität, oder fürchtete er, ich könnte unter Terrys Sachen etwas finden, das mir einen Hinweis lieferte? Und falls ja – einen Hinweis auf was?
Meine frühere Absicht war gewesen, das Zimmer zu
durchsuchen, bevor irgendjemand etwas vor mir in Sicherheit bringen konnte. Vielleicht sollte ich nicht mehr länger
damit warten.
Hellwach stand ich auf und schaltete das Licht ein. Ich
wollte keinen Lärm machen und das ganze Haus aufwecken,
also schlich ich barfuß herum, genauso verstohlen, wie Jamie es vorhin gemacht hatte.
Zuerst zog ich die Vorhänge zu für den Fall, dass tatsächlich jemand dort draußen in der Dunkelheit lauerte. Ich sah
einen schwarzen Saum von Bäumen vor indigofarbenem
Nachthimmel. Für einen Augenblick kam der Mond hervor
und tauchte den Garten in ein Licht, das alle Farben bleich
werden ließ. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und ich erkannte die Umrisse von Büschen und Pfaden. Während ich hinsah, bewegten sich die Büsche, und
die Blätter raschelten. Der Wind, sagte ich mir. Doch ich
war nicht sicher. War das dort unten nicht ein Schatten,
dunkler als die, die ihn umgaben? War er nicht hoch und
schmal statt rund und breit wie die Schatten der Büsche?
Tauchte da jemand gerade in die Deckung einer Hecke?
Waren es nur Wolkenfetzen, die über den Mond hinwegzogen? Hatte ich etwa Halluzinationen? Eines war jedenfalls
sicher – ich zeichnete mich deutlich vor dem Hintergrund
des erleuchteten Zimmers ab.
Ich zog die Vorhänge zu. Es war wichtig, dass meine Fantasie nicht mit mir durchging. Ein Detektiv musste nüchtern
zu Werke gehen. Ich machte mich daran, das Zimmer langsam und methodisch zu durchsuchen.
Ich begann mit den Schubladen der Frisierkommode. Sie
enthielten die Dinge, die ich bereits gesehen hatte: Make-up,
zerknüllte Taschentücher, ein Maniküre-Set. Ein paar alte
Busfahrscheine. Die gleiche Sorte, wie ich einen in Basingstoke gekauft hatte, um nach Abbotsfield zu fahren. Also war
Terry einige Male mit dem Bus in die Stadt gefahren. Ich
musste etwas Aufschlussreicheres finden; Fahrscheine sagten
überhaupt nichts. Ich wandte mich von der Frisierkommode
ab und dem Schubladenschränkchen in der Ecke zu.
Ich nahm alle Stofftiere herunter und zog die Kommode
von der Wand. Nichts dahinter versteckt. Nichts Interessantes in der obersten Schublade, nur ein paar Pullover. Die
zweite Schublade war leer. Die dritte war gefüllt mit alten
Schul- und einigen Taschenbüchern. Ich nahm jede einzelne
Schublade ganz heraus, denn ich wusste, dass es ein paar gute alte Tricks gibt, beispielsweise etwas mit Klebeband auf
der Rückseite zu befestigen.
Declan hatte einmal einen Fisch auf die Rückseite einer
Schublade geklebt, weil seine Vermieterin ihn aus einem
möblierten Zimmer in Bayswater geworfen hatte. Er war
sich sicher gewesen, dass die Bude zum Himmel gestunken
haben musste, bevor der Fisch gefunden worden war.
Doch hinter den Schubladen war nichts. Ich blätterte die
Bücher durch, doch es waren nur ein paar alte Krimis von
Agatha Christie und die Einführung in die Dichtung zur Zeit
des Ersten Weltkriegs . Nichts von Belang. Eines der AgathaChristie-Bücher zeigte ein Bild von Hercule Poirot auf dem
Umschlag. Ich bildete mir ein, dass er mich ein wenig herablassend angrinste. Offensichtlich dachte er, dass meine
kleinen grauen Zellen den seinen eindeutig unterlegen waren.
Ohne Zweifel hätte er das Rätsel um Terry innerhalb von fünf
Minuten gelöst, jeden im Haus unten versammelt und auf
den Mörder gezeigt – doch wer war es? Ich stellte mir vor, wie
befriedigend es wäre, würde er auf Jamie deuten.
Ich blätterte die übrigen Bücher durch; vielleicht hatte ich
etwas übersehen, doch es gab nichts. Ich räumte alle wieder
zurück in die Schublade und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Kleiderschrank. Kein Glück.
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