Granger Ann - Varady - 02
ungehört über den Treidelpfad genähert hatte oder vielleicht sogar auf einem der
still daliegenden Hausboote war, doch ich sah niemanden.
Das Wasser war übersät mit Dreck und Abfall, angefangen bei Papier und Plastik bis hin zu weggeworfenen Kondomen. Kleine Wellen schwappten gegen die leise knarrenden und quietschenden Hausboote. Ich hatte immer noch
dieses Kitzeln zwischen den Schulterblättern, das man
manchmal hat, wenn man spürt, dass man beobachtet wird.
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob es vielleicht Albies
Geist war – nur, dass Albies Geist mir gegenüber sicherlich
wohlgesinnt gewesen wäre, und was ich spürte, war Angst.
Irgendein uralter Instinkt, als hätte sich eine feindlich gesinnte Präsenz manifestiert und würde mich nun unsichtbar
für mich selbst beobachten. Das Gefühl endete abrupt, als
ein Radfahrer am fernen Ende des Treidelpfads auftauchte
und entschlossen in meine Richtung radelte. Er trug einen
Radfahrerhelm, eine Brille, eine eng sitzende Radlerhose
und ein enges Jersey-Trikot. Ich musste mich gegen die Uferböschung drücken und hätte fast meine Blumen zertreten,
um ihn vorbeizulassen. Der blöde Typ radelte einfach weiter, ohne langsamer zu werden und ohne ein Nicken zum
Dank. Trotzdem war ich heilfroh über diesen Radfahrer,
weil mir in diesem Augenblick jedes Zeichen von menschlicher Gesellschaft willkommen war.
Ich war nicht Parrys Meinung, dass in den frühen Morgenstunden bestimmt niemand in der Nähe gewesen sei. Eine Menge Leute suchen förmlich Dunkelheit und einsame
Gegenden. Doch wenn jemand in der Nähe gewesen war
und jemand etwas gesehen hatte, dann würde er es für sich
behalten. Es war, wie Albie gesagt hatte. Wer sich in der
Nacht in der Stadt bewegt, hört und sieht eine Menge, aber
er sagt nur sehr wenig darüber. Sich so zu verhalten, gehörte
zu den Gesetzen der Straße, die das Überleben sichern.
Albie hatte etwas gesehen, und Albie hatte mir – ein Verstoß gegen diese ehernen Regeln – davon erzählt. Er hatte
mir vertraut, weil wir beide uns zum Theater hingezogen
fühlten: Er, weil er sein Leben mit dem Varieté verloren hatte, und ich, weil es verführerisch vor mir leuchtete wie eine
Fata Morgana, die sich immer wieder meinem Zugriff entzog, wenn ich versuchte, sie zu packen.
Albie hatte mir vertraut, und ich würde ihn ganz bestimmt nicht enttäuschen.
KAPITEL 7 Es war nach vier, der Nachmittag
schon ziemlich weit fortgeschritten, als ich mich auf den
Rückweg vom Kanal nach Hause machte. Ich war in Gedanken versunken und überlegte, wie ich bei meinen Erkundigungen weiter vorgehen sollte. Wie ich die Sache sah, gab es
zwei mögliche Richtungen, die ich einschlagen konnte. Eine
war, Jonty zu suchen, vorausgesetzt, ich konnte ihn noch
einmal aufspüren, und die andere war das Frauenhaus, das
die Gemeinde von St. Agatha unterhielt.
Das Frauenhaus war mehrere Male erwähnt worden, und
je länger ich darüber nachdachte, desto mehr bekam ich das
Gefühl, dass es irgendetwas mit der Geschichte zu tun haben könnte. Auch die Kirche St. Agatha schien auf die eine
oder andere Weise eine wichtige Rolle zu spielen. Es war nur
ein kleiner Umweg, wenn ich nach Hause wollte, und so
machte ich mich schließlich dorthin auf den Weg.
Im hellen Tageslicht wirkte die Neogotik der Kirche überhaupt nicht mehr wie die düstere Kulisse für einen Horrorfilm. Das Tor in dem die Kirche umgebenden Zaun stand
weit offen. Der Windfang war leer und sauber gekehrt und
roch nach extra starkem kommerziellen Desinfektionsmittel. Die Kirchentür stand ebenfalls offen, und aus dem Innern ertönte das Heulen eines Staubsaugers. Ich schob den
Kopf durch den Spalt.
Ich war noch nie in St. Agatha gewesen, doch wenn ich
hätte raten müssen, hätte ich wahrscheinlich richtig gelegen. Es war eine typische spätviktorianische Kirche mit Eichenbänken und Säulen und einer Holztafel, auf der die
Nummern der Lieder angeschlagen waren und mit Messingtafeln zum Gedenken an Persönlichkeiten der Gemeinde, die von Bedeutung gewesen waren. Es gab eine
Menge Blumen; sie standen entweder in großen Vasen im
Kirchenschiff verteilt oder als Sträußchen in kleinen angemauerten Vasen oder ähnlichen Behältnissen. Ich vermutete stark, dass es in dieser Kirche kürzlich entweder eine Beerdigung oder eine Hochzeit gegeben hatte. Auf einer
der Kirchenbänke stand eine Frau mit einer Dose Metallpolitur in der einen Hand und einem Lappen in der anderen, mit dem sie
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