Granger Ann - Varady - 03
gesprochen
hatte. Ihrer Meinung nach war das alles mehr als unfair. Sie
hatte ihrer Familie Liebe und Aufmerksamkeit entgegengebracht, hatte das Haus in Ordnung gehalten und auf sich
selbst geachtet. Und dies war ihre Belohnung: von ihrem
einzigen Kind verlassen und von ihrem Ehemann im Stich
gelassen, der ausgerechnet dann, wenn sie ihn brauchte, unterwegs war und sein eigenes Ding machte. Er hatte sie allein gelassen, um einer vollkommen Fremden entgegenzutreten, von der sie nicht wissen konnte, was für eine Person
sie war, und sie um Einzelheiten anzubetteln.
Dann machte sie mich sprachlos mit einer Frage, die ich
nie und nimmer erwartet hatte. »Sie bekommt doch wohl
kein Baby, oder?« In ihrer Stimme lag eine ganze Welt voller
Ängste.
Ich starrte sie mit offenem Mund an. »Nein«, sagte ich
dümmlich.
Sie errötete, und ihre dünne Haut wurde ganz dunkel.
»Weil es doch heutzutage … ich meine, es gibt so viele allein
stehende Mütter, und ich dachte, vielleicht ist das der Grund,
aus dem Jane nicht mehr nach Hause gekommen ist … oder
vielleicht war es sogar schon der Grund für ihr Weglaufen.«
Ich seufzte. Seit Tig weggegangen war, hatte ihre Mutter
dagesessen und sich immer und immer wieder die gleiche
Frage gestellt. Warum? Nach ihrer Art zu denken konnte es
unmöglich an diesem vollkommenen Zuhause liegen. Das
war völliger Unsinn. Ihre Tochter hatte in der Schule hart gearbeitet und war fleißig gewesen, das konnte es also auch
nicht sein. Sheila Quayle war zu der einzigen Schlussfolgerung gelangt, die ihr sonst noch einfallen wollte. Ihr die wirklichen Gründe zu erklären würde sehr viel schwerer werden,
als ich mir in meinen schlimmsten Träumen vorgestellt hatte.
»Es gibt kein Baby, nein«, wiederholte ich ganz entschieden.
Sie wirkte erleichtert, doch dann kam dieser störrische
Ausdruck zurück. »Aber wenn es kein … dann verstehe ich
wirklich nicht, warum …«
Wir wurden vom Geräusch eines Wagens unterbrochen,
der in die Auffahrt kam.
»Colin!«, rief Mrs Quayle erleichtert wie von Feinden belagerte Soldaten, die endlich Verstärkung herannahen sehen. Sie sprang auf und rannte hinaus in die Halle, um ihren Mann zu informieren, noch während er den Schlüssel
ins Schloss steckte, um sich einzulassen.
Sie hatte die Salontür hinter sich zugezogen, doch ich
hörte das Zufallen der Tür und die gedämpfte Unterhaltung, die sich daran anschloss. Schließlich wurde die Salontür wieder geöffnet.
Er war ein großer, rotgesichtiger Mann in einem hahnentrittgemusterten Anzug, den er über einer senffarbenen
Filzweste trug. Die Schuhe waren auf Hochglanz polierte
derbe Straßenschuhe. Der erste Eindruck war eher der eines
Großgrundbesitzers als der eines Geschäftsmannes. Auf den
zweiten Blick wirkte er weniger überzeugend; es war alles
ein wenig zu neu und nicht ganz perfekt geplättet. Sicher,
der Anzug war von ausgezeichneter Qualität, doch er kam
meiner Meinung nach von der Stange. Die Schuhe waren
ebenfalls preisliche Oberklasse, auch wenn sie nicht handgemacht waren, und die schicke goldene Armbanduhr war
verschrammt. Landadel, wie ich ihn kennen gelernt hatte,
beispielsweise der gute alte Alastair Monkton, trugen unglaublich alte Anzüge mit wunderbarem Schnitt und maßgefertigte Schuhe, die sich bereits in Auflösung befanden.
Wenn sie wissen wollten, wie spät es war, zückten sie uralte
Taschenuhren, die sie von ihren Großvätern geerbt hatten.
Ich fragte mich, aus welchen Verhältnissen Colin Quayle
wohl stammen mochte, und ich kam zu dem Schluss, dass
sie wohl ziemlich gewöhnlich gewesen waren, bevor Geld
ihn in die Lage versetzt hatte, in der Gesellschaft aufzusteigen, wie er es wahrscheinlich nannte. Vielleicht war seine
Garderobe eine Art Eintrittskarte. Nicht alle erfolgreichen
Geschäftsmänner kamen ohne Probleme mit ihrem Erfolg
zurecht.
Er erbot sich nicht, mir die Hand zu schütteln, sondern
blieb hoch aufragend vor mir stehen und musterte mich auf
eine Weise, wie es kein wirklicher Gentleman wagen würde,
wie Großmutter Varady immer gesagt hatte.
»Sie sind also die junge Frau, die angerufen hat?«, fragte
er herausfordernd. »Die junge Frau aus London?«
Ich widerstand der Versuchung, in Bühnencockney hervorzuplatzen: »Mensch, fressen Se mich doch nich gleich
auf, Chef! Setzen Se sich erst mal auf Ihre vier Buchstaben,
und nehmen Se ’ne Tasse Rosa Lee.«
Nervös mischte sich seine Frau ein. »Das ist Fran Varady,
Colin.«
»Oh,
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