Granger Ann - Varady - 03
wir hätten ihr Geld schicken können, verdammt!
Mein Gott, wenn es nur das Geld war …«
»Sie … sie hatte zu viel Angst, um sich zu melden«, sagte
ich, und zum ersten Mal glaubte ich den Grund dafür zu
verstehen.
»Meine Tochter hat gebettelt …« Er zog ein Taschentuch
hervor und wischte sich über das Gesicht. »Herrgott im
Himmel. Wenn die Leute das erfahren …«
O ja, das war es, was ihm Sorge bereitete. Der wohlhabende, erfolgreiche Colin Quayle, der in seiner Gemeinde
als gottesfürchtiger Messdiener auftrat … und dessen Tochter in London auf der Straße stand und fremden Passanten
die ausgestreckte Hand entgegenhielt und sie nach ein wenig Kleingeld fragte.
»Verstehen Sie nun«, sagte ich. »Falls Jane nach Hause
kommt, werden sich alle sehr anstrengen müssen. Sie müssen mit ihren schlechten Erfahrungen leben und akzeptieren, dass sie sich verändert hat. Und Jane muss lernen, wieder ein Leben wie dieses zu führen«, ich deutete auf das
Zimmer ringsum, während ich redete. Konnte Tig so etwas?
Konnte sie sich tatsächlich wieder an dieses Leben anpassen?
Insbesondere mit einem Holzkopf wie ihrem Vater um sie
herum, einem Mann, der ungefähr so einfühlsam war wie
Attila der Hunne? »Es wird schwer werden, für Sie alle drei«,
fuhr ich fort und deutete auf das Bild von dem kleinen
Mädchen im Ballettkleidchen, das auf dem Kaminsims
stand. »Das dort vergessen Sie besser.«
»Sie war so eine süße kleine Tänzerin«, flüsterte Sheila
Quayle am Boden zerstört. »Sie hat Preise gewonnen. Sie
wissen ja gar nicht, wie es hier gewesen ist, Fran, seit sie
nicht mehr da ist. Ich habe kaum noch geschlafen. Nächtelang liege ich wach und denke an sie. Ich denke den ganzen
Tag lang an sie. Jedes Mal, wenn das Telefon läutet oder
wenn jemand an der Tür ist, hoffe ich, dass es vielleicht Jane
sein könnte. Ich warte auf die Post …« Sie schien sich zu erinnern, dass ihr Mann ebenfalls da war. »Dir geht es doch
genauso, Colin, nicht wahr?«
Er beantwortete die Frage nicht direkt. Er hatte offensichtlich Angst, auch nur die kleinste menschliche Schwäche
zu zeigen, schätzte ich. Der Mann tat mir aufrichtig Leid,
ehrlich. Er saß in einem Gefängnis, das er sich selbst geschaffen hatte, indem er sich an seine sinnentleerten Standards hielt. Das Dumme daran war, dass er versucht hatte,
diese Standards Tig aufzuzwängen.
»Wer hat sie angegriffen?«, fragte er grimmig.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete ich. »Das Leben auf der
Straße ist eben so.«
»Nimmt sie Drogen?«, fragte er als Nächstes. Er mochte
taktlos sein, aber dumm war er nicht. Er wusste, dass ich ihnen eine Menge verschwieg.
»Sie hat Drogen genommen«, antwortete ich und versuchte, Sheila nicht anzusehen, die aussah, als müsste sie
ohnmächtig aus dem Sessel fallen. »Allerdings ist sie inzwischen wieder davon weggekommen. Es hat sie eine ganze
Menge Kraft gekostet. Ihre Tochter ist sehr stark.« Ich beugte mich vor. »Sie braucht nichts weiter als ein wenig Unterstützung und Hilfe. Sie kann es schaffen, sie kann in ein
normales Leben zurückfinden. Es wird nicht leicht werden,
doch mit Ihrer Hilfe kann sie es schaffen. Sie wird eine
Menge Hilfe benötigen. Eine ganze Menge. Sie versteckt sich
hinter den Möbeln, wenn jemand Fremdes vor der Tür
steht. Sie glaubt, alle wollten ihr zusetzen.«
Die beiden Quayles sahen sich an und saßen schweigend
da.
»Vielleicht könnte Dr. Wilson helfen«, sagte Sheila Quayle schließlich zu ihrem Mann. »Er kennt Jane, seit sie ein
kleines Mädchen war. Vielleicht sollte sie … vielleicht würden ihr ein paar Besuche bei einem Therapeuten helfen.«
»Ich brauche keinen Hirnklempner, der mir erzählt, meine Tochter wäre irre!«, grollte Colin Quayle. Für ihn bedeutete der Besuch bei einem Therapeuten ein weiteres Eingeständnis von Versagen. Offen gestanden war ich der Meinung, dass er derjenige war, der therapeutische Hilfe dringender nötig hatte als seine Tochter.
»Es wäre vielleicht gar keine schlechte Idee, den Arzt um
seinen Rat zu bitten«, sagte ich. »Wie dem auch sei, Tig, ich
meine Jane, benötigt eine vernünftige Ernährung, um wieder zu Kräften zu kommen, und meiner ehrlichen Meinung
nach wird sie nicht mehr viel länger durchhalten, wenn
nicht bald etwas geschieht.« Es war Zeit, die Karten auf den
Tisch zu legen. »Was soll ich ihr also sagen?«, fragte ich.
»Darf sie nach Hause kommen oder nicht?«
»Wir brauchen ein wenig Zeit, um …«, begann
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