Granger Ann - Varady - 03
Tigs
Mutter musste mich draußen gesehen haben, als ich abschätzend vor dem Haus stehen geblieben war. Wir starrten
uns durch die gläserne Tür der Eingangshalle hindurch an,
dann kam sie mir entgegen und öffnete.
»Miss Varady?«, fragte sie.
Ihre Stimme bebte. Sie war eine kleine, zierlich gebaute
Person, und ich erkannte die Ähnlichkeit mit Tig. Mrs Quayle
war sicherlich bereits in den Vierzigern, doch sie hatte ihre gute Figur behalten. Die Haare waren frisch frisiert, das Grau
weggefärbt, und ihre feine Haut, durchzogen von den ersten
tiefen Falten, wie es bei solchen Typen üblich ist, war sorgfältig geschminkt.
Ich gab mich zu erkennen und sagte, ich wäre froh darüber,
dass sie sich einverstanden erklärt hätte, mich zu sehen. Ich
fragte mich, wo Colin Quayle steckte.
Sie bat mich ins Haus. Die Eingangshalle glänzte frisch
gestrichen, mit neuen Teppichen und glänzenden Möbeln,
und es roch nach Wachs und Politur von der Sorte, die man
in Dosen versprüht. Mrs Quayles Haus wirkte steril. Ich hatte das Gefühl, als dürfte ich nichts berühren, sondern müsste ein paar Zentimeter über dem Boden schweben, in einer
Art Levitationserfahrung.
Ich trampelte mit meinen Doc Martens durch die Halle in
einen unglaublich ordentlichen Salon (es gab keine passendere Beschreibung dafür) und nahm auf einem mit Samt gepolsterten Lehnsessel mit schneeweißen, gestärkten Lehnschonern Platz, die das Möbel vor der Berührung verschmutzender menschlicher Hände schützen sollten. Mir wurde
deutlich bewusst, warum Bonnie bei Tigs Eltern nicht willkommen sein würde.
»Kaffee?«, fragte Mrs Quayle, die ihre Nervosität immer
noch nicht abgelegt hatte. Sie stand vor mir und beäugte
mich fast so, wie die Polizisten Bonnie beäugt hatten – als
würde ich beißen, wenn ich auch nur die kleinste Gelegenheit witterte.
»Das wäre sehr freundlich, danke sehr«, antwortete ich,
weil ich glaubte, dass dies die Antwort war, die sie hören
wollte. Noch immer keine Spur von Mr Quayle. »Ist Ihr
Mann denn nicht zu Hause?«, fragte ich.
»Er ist zur Kirche gegangen«, sagte sie. »Er ist heute Messdiener. Er wird bald zu Hause sein.«
Sie eilte in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Ich lehnte
mich vorsichtig in meinem Sessel zurück und betrachtete
die Einrichtung. Auf dem Kaminsims standen Porzellanfiguren von edwardianischen Schönheiten und eine Fotografie von einem kleinen Mädchen in einem Ballettkleidchen.
Ich dachte an Tig und daran, wie ich sie auf dem Bahnsteig
von Marylebone zurückgelassen hatte, in abgetragenen Jeans
und Doc Martens, genau wie ich selbst, einer schmuddeligen
Regenjacke und mit einem kleinen Terrier an einer kurzen
Leine.
Mrs Quayle kehrte aus der Küche zurück. Ich stand auf,
um ihr mit dem Tablett zu helfen, und sie murmelte ihren
Dank. Der Kaffee war in einer Porzellankanne, die Kaffeetassen waren aus feinem Porzellan, und es gab richtige Kaffeelöffel mit emaillierten Griffen, auf denen Blumen zu sehen waren. Außerdem stand auf dem Tablett ein großer
Teller mit selbst gebackenen Biskuits.
»Nehmen Sie Zucker, Miss Varady?« Sie klammerte sich
verzweifelt an die Förmlichkeiten, wie ein ertrinkender
Mann an einen Ast.
Ich sagte ihr, dass ich keinen Zucker mochte, und bat sie,
mich doch Fran zu nennen.
»Ich heiße Sheila …«, antwortete sie und reichte mir eine
Kaffeetasse. Der Kaffee schwappte in den Unterteller. Ich
empfand Mitleid mit ihr und hätte sie gerne irgendwie beruhigt. Sie trug ein dreiteiliges Wollkostüm in respektablem
dunklem Braun; ein langer Rock, ein Pullover und darüber
eine lange ärmellose Jacke. Das Kostüm sah kostspielig aus.
Ihre Fingernägel waren passend dazu in einem braunen
Orangeton lackiert, exakt dem gleichen Farbton ihres Lippenstifts. Mein Gefühl von Mitleid verstärkte sich noch. Als
Tig von zu Hause weggelaufen war, hatte diese arme Frau
nichts anderes mehr zu tun gehabt, als ihre Möbel zu polieren, den Friseur zu besuchen und schrecklich teure, respektable Kostüme einkaufen zu gehen. Wie würde sie nun mit
Tigs Rückkehr zurechtkommen?
»Ist Jane … haben Sie Jane noch einmal gesehen seit unserem Gespräch?« Sie beugte sich vor, und in ihren Augen
stand ein flehender Ausdruck.
Ich sagte ihr, dass ich Jane an diesem Morgen gesehen
hatte und dass es ihr gut ging.
»Ich weiß trotzdem nicht, warum sie nicht selbst gekommen ist«, sagte ihre Mutter verärgert, und ich erkannte
den Tonfall der Frau, mit der ich am Telefon
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