Granger Ann - Varady - 04
sage?«
»Aber ich möchte doch gar nicht, dass du das tust!« Sie
umklammerte meine Hand mit dem Umschlag darin, und
er verknitterte noch mehr, falls das überhaupt möglich war.
»Ich möchte doch nur, dass du herausfindest, wo sie heute
lebt, und dass du versuchst, einen Blick auf sie zu werfen.
Dass du vor ihrem Haus herumhängst und wartest, bis sie
aus der Schule nach Hause kommt oder irgend so was in der
Art. Und dann kommst du zurück und erzählst mir alles.
Verstehst du, ich weiß nicht – ich wusste bis zum heutigen
Tag nicht, wie ihr beide ausseht. Ich wusste lediglich, dass
das Bild, das ich in meiner Erinnerung mit mir herumgetragen habe, längst nicht mehr aktuell ist. Du warst ein kleines
Mädchen, und Miranda war ein Baby! Das Einzige, was mir
in den letzten Wochen noch wichtig war, war die Frage, wie
ihr heute wohl aussehen mögt. Das ist der Grund, warum
ich Rennie Duke bat, dich zu finden. Das und weil ich versuchen möchte, eine Art Frieden mit dir zu schließen. Jetzt
bist du hier, und ich habe dich gesehen. Was den Frieden
angeht, so hoffe ich wirklich, dass es irgendwie möglich ist.
Ich bin dir sehr dankbar für dein Kommen. Ich kann mir
denken, wie schwer es für dich gewesen sein muss, dich dazu durchzuringen. Miranda – ich meine Nicola – ist eine
ganz andere Art von Problem. Ich kann sie nicht einfach
bitten herzukommen. Ich kann nicht selbst nach ihr suchen.
Ich möchte, dass du die Rolle meiner Augen übernimmst,
Fran. Und ich möchte, dass die Wildes erfahren, dass ich
nicht mehr sehr lange leben werde, also falls sie sich immer
noch sorgen, dass ich irgendwann meine Meinung ändern
könnte und Miranda für mich zurückverlangen … nun, das
müssen sie nicht, oder? So weit kommt es nicht mehr. Ich
möchte im Grunde genommen nur, dass du für mich Leb
wohl sagst. Es ist gar nicht nötig, mehr in Details zu gehen.«
»Aber wenn ich anfange, Fragen über den Verbleib der
Wildes zu stellen, wird ganz sicher irgendjemand misstrauisch werden. Ich meine, was soll ich denn als Ausrede erzählen?« Sie musste doch sehen, wie peinlich diese ganze Geschichte werden würde.
»Wenn du die Wildes gefunden hast«, beharrte sie halsstarrig, ohne auf meinen Einwand einzugehen, »dann sag
ihnen nur, dass ich nicht mehr lange leben werde. Ich
möchte nicht gehen, ohne ihnen noch einmal zu sagen, wie
dankbar ich für alles bin, was sie für mich getan haben. Sag
ihnen, Eva möchte ihnen ihre Liebe senden. Das ist alles.
Miranda muss gar nicht eingeweiht werden. Sie werden es
verstehen, ganz bestimmt.«
Nein, würden sie nicht. Ganz bestimmt nicht. Sie würden
erstarrt sein vor Schreck. Selbst wenn ich Miranda – Nicola
– nicht erwähnte, würden sie sich denken können, was das
alles zu bedeuten hatte. Ein Geheimnis, das sie nahezu dreizehn Jahre lang mit sich herumgetragen und von dem sie
geglaubt hatten, dass es nur drei Menschen auf der Welt
kannten, nämlich sie beide und meine Mutter – war plötzlich auch noch einem vierten Menschen bekannt, nämlich
mir. Ich hasste diese Vorstellung. Ich hasste sie Stück für
Stück. Ich hasste das Täuschungsmanöver, das mir aufgezwungen wurde, und ich hasste die jahrzehntelange Täuschung, in der meine Schwester aufgewachsen war. Natürlich war es damals einfach erschienen. Meine Mutter erzählt
der Nachbarin, die sich um Miranda gekümmert hat, dass
sie das Baby in einer Tagesstätte untergebracht hätte. Meilenweit entfernt zieht ein junges Paar mit seinem neugeborenen Kind irgendwo in ein Haus, vielleicht in einer der
Neubaugegenden am Stadtrand. Niemand stellt irgendwelche Fragen. Sie können die erforderliche Geburtsurkunde
vorweisen, und auf Grund dieser Geburtsurkunde wird das
Kind eingeschult, erhält seinen Pass, erhält jedes legale Dokument, das es irgendwann benötigt. Die Verwandten leben
weit weg, und wer von ihnen wusste, dass das Baby der Wildes gebrechlich war und auf der Intensivstation gelegen hat,
der erfährt nun aus dem gleichen Mund, dass es über den
Berg ist und kräftig genug, um nach Hause zu kommen.
Stellt irgendjemand diese Geschichte infrage? Selbstver
ständlich nicht! Alle sind außer sich vor Freude.
Die Wildes hatten sich getäuscht, wenn sie geglaubt hatten, niemand anders würde es jemals erfahren. Es stand
schließlich in den Aufzeichnungen der Entbindungsklinik –
falls sich irgendjemand die Mühe machte nachzusehen. Mrs
Flora Wilde hatte ein Baby geboren, das wenige Wochen
später starb, ohne
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