Granger Ann - Varady - 04
abschreckten. Ich habe schon mit allen
möglichen Leuten zusammengewohnt, und die meisten von
ihnen wollten genau wie ich einfach nur in Ruhe gelassen
werden. Was mir am meisten Sorgen machte, das waren die
Unmengen leicht entzündlicher Zeitungen unten im Erdgeschoss, und täglich brachte Norman neue mit nach Hause
wie ein durchgeknalltes Eichhörnchen.
Jemand näherte sich. Er kam vom anderen Ende der von
Bäumen gesäumten Straße über den Bürgersteig in meine
Richtung. Die Gestalt verschwand immer wieder außer Sicht,
wenn sie unter den dunklen Schatten eines Baumes trat, um
Sekunden später im dumpfen Lichtkegel einer Straßenlaterne
erneut aufzutauchen. Als sie näher kam, erkannte ich, dass sie
weiblich sein musste, nicht besonders groß, dick angezogen
mit einer wattierten Jacke und mit einer schweren Tasche, die
sie an einem Riemen über die Schulter trug. In der anderen
Hand hielt sie einen langen, dunklen Koffer. Es war ein Violinenkoffer, und ich musste erneut an Sherlock Holmes denken. Das Mädchen war fast heran. Es verließ die Dunkelheit
unter einem Baum und trat ins Licht der nächsten Straßenlaterne, und ich sah zum ersten Mal ihr Gesicht im fahlen gelben Fluoreszieren der Laterne.
Ich konnte nicht anders. »Nicola!«, entfuhr es mir.
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es das Mädchen auf dem Schulfoto war. Sie hatte die Kapuze ihrer wattierten Jacke übergezogen, doch ihre langen blonden Haare,
schlaff vor Nässe, quollen darunter hervor. Unter der Jacke
trug sie einen dunklen Rock, dunkle Strümpfe und feste
Schnürschuhe. Ich schätzte, dass bis auf die Jacke alles Bestandteil der Uniform irgendeiner Privatschule war. Diese
Uniformen sehen immer gleich aus. Ich hatte während meiner Zeit an der Mädchenschule eine beinahe identische Uniform getragen. Ich hoffte nur, dass Nicola mehr aus ihren
Chancen machte, als ich es getan hatte.
Sie hatte mich gehört und war stehen geblieben. Ihre Augen fixierten mich verblüfft, jedoch nicht misstrauisch. Sie
hatte die Selbstsicherheit, die typisch ist für die Klugen,
Hübschen, Geliebten und Gutsituierten. Eine kleine Prinzessin.
»Kenne ich Sie?«, fragte sie mit gleichermaßen selbstsicherer, ein wenig aggressiver Stimme.
»Nein«, sagte ich.
»Sie haben meinen Namen gerufen.«
»Nein«, widersprach ich und fühlte mich wie ein Hohlkopf.
»Ich hab’s aber deutlich gehört«, beharrte sie. »Sie haben
›Nicola!‹ gerufen.« Jetzt schwang offene Anschuldigung in
ihrem Tonfall.
»Nein, habe ich nicht«, stritt ich ab. »Ich habe gehustet,
weiter nichts.«
Sie glaubte mir nicht. Sie stand immer noch da und funkelte mich an, weil ihr widersprochen wurde, obwohl sie sicher war, Recht zu haben.
»Ich hab eine schlimme Brust«, sagte ich klagend. »Ich
schlaf im Freien, Süße. Hast du vielleicht ein wenig Kleingeld?«
Damit war der Fall erledigt.
»Nein, hab ich nicht!«, schnappte sie. »Und wenn ich
welches hätte, würd ich es Ihnen nicht geben!«
Sie stampfte davon. Ich beobachtete sie, wie sie die Straße
zum Haus der Wildes überquerte und einen Schlüssel zückte, um hineinzugehen. Ich hielt es für angebracht, mich für
eine Weile von meinem Platz zu verziehen. Sie würde bestimmt zu Hause von unserer Begegnung erzählen. Ich erhob mich und zog mich hinter einen der Bäume zurück.
Nicht einen Moment zu früh.
Nicola schien mit der Geschichte von einem wegelagernden Bettler ins Haus geplatzt zu sein. Der Vorhang vor einem der vorderen Fenster wurde zur Seite gerissen, und ein
Gesicht starrte nach draußen. Floras Gesicht, verzerrt vor
Ärger und Empörung. Als sie die leere Bank erspähte, drehte
sie den Kopf und sagte etwas zu jemandem im Zimmer. Nicola erschien neben ihr und spähte ebenfalls in die Nacht
hinaus, in Richtung der Bank. Dann zuckte sie die Schultern. Beide Frauen zogen sich vom Fenster zurück, und der
Vorhang fiel an seinen Platz zurück.
Ich wartete ein paar Minuten, bevor ich aus meiner Deckung trat, noch nasser als zuvor, falls das überhaupt möglich
war. Ich war froh, dass Jerry Wilde nicht zum Fenster gekommen war. Es verriet mir, dass er noch nicht zu Hause war.
Mir wurde bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, ob er täglich
regelmäßig pendelte. Vielleicht verschwendete ich meine Zeit.
Vielleicht arbeitete er zu Hause. Vielleicht hatte er die ganze
Zeit über in seiner behaglichen und warmen Küche gesessen,
während ich hier draußen langsam nass bis auf die Knochen
wurde und
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