Granger Ann - Varady - 05
mich hier mit einem
Freund verabredet. Sein Name lautet Ion. Sie haben ihn nicht
zufällig gesehen, oder? Er ist ein dünner Junge mit großen
Augen, ungefähr sechzehn.«
Frettchengesicht starrte mich nur wortlos an. Er versuchte nicht einmal, meine Frage zu beantworten, nicht einmal
mit Nein. Ich war nicht wirklich überrascht. Ich hatte nichts
anderes erwartet. Es war einen Versuch wert gewesen, weiter
nichts.
Ich wanderte durch die Straße, während ich mein Hotdog
aß. Es schmeckte nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte;
selbst das Brot war okay und weich. Ich hielt die Augen offen und suchte meine Umgebung nach Ion ab. Ich sah in die
Pubs, an denen ich vorbeikam, nur für den Fall, doch wie
ich erwartet hatte, war er dort auch nicht zu finden. Ich bezweifelte, dass er das Geld besaß, um einen Abend draußen
zu verbringen, und er war unübersehbar minderjährig und
durfte keinen Alkohol kaufen.
Ich kam bis zur Chalk Farm Road an einem Ende der
High Street, bevor ich umkehrte und auf dem gleichen Weg
zurückschlenderte, auf dem ich gekommen war. Beim
Roundhouse entdeckte ich eine vertraute Gestalt, doch es
war nicht die von Ion. Es war Marty, der vor dem alten, zu
einem Theater umfunktionierten Lokschuppen stand und
melancholisch die Fassade betrachtete.
»Hi, Marty«, begrüßte ich ihn. »Wer weiß, vielleicht hast
du eines Tages auch ein Stück, das sie hier spielen.«
»Sie spielen Shakespeare, wusstest du das?«, erwiderte er.
»Denk nur an all die großen Stückeschreiber der Vergangenheit, und dann denk an die Nachfrage nach ihren Arbeiten und die Anzahl von Theatern und Gruppen, die durch
das Land gezogen sind. Es muss großartig gewesen sein, als
das Theater noch die Unterhaltung der kleinen Leute war.
Jeder, der auch nur halbwegs anständig schreiben konnte,
bekam eine Chance mit seinem Stück.«
»Es gibt heute Fernsehen«, sagte ich. »Dort sind sie immer auf der Suche nach Drehbüchern.«
»Ich schicke dauernd welche ein«, sagte er düster. Er richtete seinen bebrillten Blick auf mich und fügte auf bedrohliche Weise hinzu: »Kannst du deinen Text?«
»Ich kenne meinen Text, Marty, keine Sorge. Vielleicht
habe ich ein Black-out auf der Bühne, aber jetzt im Augenblick kenne ich ihn.«
Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Als ich mich zum
Gehen wandte, trat er an meine Seite. »Was machst du hier
in der Gegend, Fran? Gehst du aus?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich suche nach jemandem.« Ich
zögerte. »Es ist ein Junge, den ich ein paar Mal getroffen habe. Er hängt manchmal hier in diesem Teil der Welt rum. Er
ist ungefähr sechzehn, dürr und trägt Klamotten, die ihm zu
groß sind. Er hat große dunkle Augen und sieht aus wie etwas, das die Katze mit nach Hause gebracht hat.«
»Viele Jugendliche in London sehen so aus«, bemerkte
Marty.
»Das ist richtig, ja. Ich schätze, ich verschwende meine
Zeit.«
Ich hatte mein Hotdog aufgegessen und wurde allmählich
nass. Was machte ich überhaupt hier? Ich trieb mich auf eine vage Chance hin hier herum und vertändelte meine Zeit.
Ich schlug den Kragen meiner Baumwolljacke hoch. Wassertropfen rannen nach innen.
Marty schien damit zufrieden zu sein, neben mir herzutrotten. Vielleicht hatte er nichts Besseres zu tun, oder vielleicht war er nervös wegen des Stücks und empfand das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen. Wir näherten uns der
Camden Town Tube-Station, und ich beschloss, es für heute
aufzugeben und nach Hause zu fahren. Ich musste auch
noch mit Bonnie raus, bevor ich schlafen ging. Vielleicht
hatte Erwin sie am Nachmittag ausgeführt. Er hatte ja meinen Schlüssel und konnte sie zumindest in den Garten lassen, wenn ich nicht da war. Manchmal nahm er sie auch mit
zum Eckladen, auch wenn sie immer laut bellend protestierte, wenn er sie draußen festband.
In diesem Augenblick, während ich an all das dachte,
entdeckte ich Ion. Er war auf dem Weg zur U-Bahn. »Sorry,
Marty«, rief ich aufgeregt, »aber ich muss mich beeilen! Da
ist er! Wir sehen uns!« Ich rannte los.
Die U-Bahn-Station liegt dort, wo die Kentish Town
Road und die Camden High Street in spitzem Winkel ineinanderlaufen. Die Station befindet sich genau im Winkel. Sie
kann von beiden Seiten aus betreten werden, und als Ergebnis benutzen Fußgänger die Zugänge als Unterführung,
wenn sie von einer Straßenseite auf die andere wollen.
Das, so wurde mir bewusst, als ich hinter Ion her in die
Station rannte, machte die Dinge kompliziert.
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