Granger Ann - Varady - 05
Ich wusste
nicht, ob er die Bahn nehmen wollte oder einfach nur auf
dem Weg in die Kentish Town Road war. Ich rannte aus
dem Ausgang in die andere Straße und suchte vergeblich die
nähere Umgebung nach Ion ab, bevor ich kehrtmachte und
wieder in die Station lief. Die paar Sekunden, die ich gebraucht hatte, reichten vielleicht aus, um Ions Spur ganz zu
verlieren.
Doch die U-Bahn-Station von Camden Town hat noch eine weitere Besonderheit: Es ist eine von den wenigen, wo es
keine automatischen Barrieren gibt. Man muss seine Fahrkarte einem Uniformierten zeigen, der in einem Holzschalter
sitzt. Das verlangsamt das Vorankommen, besonders, wenn
Betrieb herrscht, und wie es der Zufall wollte, herrschte gerade Betrieb. Offensichtlich war eine Bahn eingefahren, weil die
Rolltreppe eine Menschenmasse ausspie, die dem Ausgang
entgegenströmte. Jeder, der in die andere Richtung wollte,
musste sich gegen den Strom stemmen, und unter diesen
Leuten erspähte ich Ion wieder. Er schob sich an dem Uniformierten vorbei und hielt seinen Fahrschein hoch.
Er würde definitiv die Rolltreppe nach unten nehmen
und in eine Bahn steigen. Verdammt, ich hatte kein Ticket
und konnte ihm nicht folgen! Ich wirbelte herum auf der
Suche nach einer Stelle, wo ich eins kaufen konnte. Während ich das tat, kam ein Mann durch den Eingang auf der
Kentish Town Road. Er hatte es allem Anschein nach eilig
und schob sich an mir vorbei: ein großer, schwerer Kerl in
einer regendichten Jacke mit einer Kapuze, die er gegen den
Regen hochgeschlagen hatte. Während ich dem Typen hastig auswich, bemerkte ich einen eigenartigen Geruch an seiner Kleidung; dann war er weg, vorbei an mir und an dem
Uniformierten in seiner Holzhütte und auf der Rolltreppe,
die hinunter zu den Bahnen führte.
Ich hastete zu dem Fahrkartenschalter und erstand den
billigsten Fahrschein. Bis ich auf die Rolltreppe stieg, war
Ion unten längst nicht mehr darauf. Ich sah nur den großen
Mann mit der Kapuzenjacke, der unten auf den Bahnsteig
sprang. Von Ion war keine Spur zu sehen.
Ich rannte die Rolltreppe hinunter und sprang die letzten
Stufen, doch Ion war längst verschwunden, und ich hatte
keine Ahnung, welche Richtung er eingeschlagen hatte. In
der Station von Camden Town hatte er freie Auswahl. Hier
treffen vier Gleise der Northern Line zusammen. Nach
Norden führt eins davon nach Edgware und das andere
nach Finchley Central und weiter. Südlich enden beide Linien in Morden, doch eine verläuft über Charing Cross, die
andere über Moorgate. Ion konnte längst in eine Bahn gestiegen und sonst wohin unterwegs sein. Die Verzögerung,
während ich meinen Fahrschein gekauft hatte, war groß genug, dass eine Bahn hätte halten und mit Ion an Bord wieder abfahren können. Ich beschloss, es mit den südlichen
Bahnsteigen zu versuchen, weil es höchst wahrscheinlich
war, dass er nach Central London fahren würde. Der Bahnsteig nach Charing Cross war voll mit Menschen. Hier war
seit einer Weile keine Bahn durchgekommen, und jede Minute musste eine auftauchen. Wenn ich Glück hatte, stand
Ion irgendwo in der Menge und wartete zusammen mit den
anderen.
Ich gehöre nicht zu jenen Leuten, die das U-Bahn-System
als klaustrophobisch empfinden; doch die abgestandene
Luft und das Gedränge von Leibern unter der blau-cremefarben gefliesten Gewölbedecke weckten ein Gefühl von Unruhe in mir. Je schneller ich Ion fand und wir beide nach
draußen kamen, desto besser.
Ich fing an einem Ende an und arbeitete mich durch die
wartende Traube von Passagieren nach vorn. Es war nicht
einfach. Ständig kamen weitere Menschen hinzu. Vielleicht
hatte es eine Verspätung gegeben, denn ich hatte das Gefühl, dass wesentlich mehr Menschen hier warteten als für
diese Tageszeit üblich. Ich schob und wand mich zwischen
ihnen hindurch und entschuldigte mich, wenn ich böse Blicke erntete. Fast hatte ich das Ende des Bahnsteigs erreicht,
ohne meine Beute entdeckt zu haben, als mir ein Schwall
warmer Luft aus dem Eingang des U-Bahn-Tunnels ins Gesicht wehte. Ein Zug näherte sich. Ich hatte noch Sekunden,
um Ion zu finden, falls er hier war. Verzweifelt suchte ich
unter den verbliebenen Passagieren nach ihm.
Dort war er! Ganz am Ende des Bahnsteigs. Ich rief seinen Namen und wollte zu ihm rennen, doch die Menschenmenge hatte begriffen, dass der Zug einlaufen würde,
und strömte nach vorn. Mein Weg war blockiert, und ich
verlor Ion im Gedränge von Leibern erneut aus dem Blick.
Alles geschah
Weitere Kostenlose Bücher